Alexander Reiser - Der Schuster, der Bäcker und die Integration der Aussiedler

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Der Schuster, der Bäcker und die Integration der Aussiedler

Wenn ein Bäcker anfängt, Schuhe zu fertigen und ein Schuster, Brot zu backen, dann ist bekanntermaßen nichts Gutes zu erwarten. Bei der Integration der Aus¬siedler scheint man diese Weisheit nicht beachten zu müssen, deswegen kann ich mich persönlich nur wun¬dern, dass der Laden überhaupt noch irgendwie läuft.
Bei uns im Osten ist das Arbeitsamt sowieso davon überzeugt, das jeder Langzeitarbeitslose, der nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt gebraucht wird, immer noch für die Arbeit in einem Integrationsprojekt geeignet ist. Zum Beispiel wusste man lange Zeit nicht, wohin mit den zahlreichen Professoren und Lehrern für Marxismus-Leninismus, die aus der DDR-Zeit übriggeblieben sind – wer braucht die heutzutage schon? Unser Jobcenter aber hält sie aufgrund des durch ihren Beruf besonderen Verhältnisses zur ehemaligen Sowjetunion für bestens für die Integration von Aussiedlern geeignet. Nur, was sollen sie denn den Aussiedlern beibringen – Marxis¬mus-Leninismus? Den kennen die Betroffenen nach lan¬gen Jahren des Zwangsbekenntnisses wahrscheinlich besser als die ihnen vor die Nase gesetzte ‚Vormund¬schaft’.
Man ist beim Arbeitsamt ohnehin felsenfest davon überzeugt, dass jeder Ostdeutsche durch irgendeinen Bezug zur UdSSR sofort als Experte für alles, was aus dieser Richtung kommt, einsetzbar ist. Und sei es auch nur ein ehemaliger Totengräber. Eigentlich ist es zum Lachen, aber neulich habe ich tatsächlich einen bei einem Projekt für Integration entdeckt. Wie er den Aus¬siedlern helfen soll, bleibt mir ein Rätsel, außer dass er den einen oder den anderen heimlich verbuddeln könnte – dann wäre man das Problem gleich los.
Oder ein Major der Volksarmee, der ein anderes Projekt anführte. Nein, es wurde dort nicht marschiert, aber zum Morgenappell hatte jeder zu erscheinen und bei der Lagebesprechung dabei zu sein, war schon ein Muss. Ansonsten integrierte er seine Schützlinge zwar streng, aber gerecht. Besonders beeindruckend waren seine Vorträge zur Integration, als er über Strategien des Überlebens in Deutschland und von der Taktik der All¬tagsbewältigung sprach, vom Überraschungsvorstoß in die neue Welt und dem Rückzug in das ‚gesicherte’ Hinterland. Dank seiner Bemühungen waren seine Schützlinge nach einiger Zeit zum sofortigen Einsatz bei der Bundeswehr in jedem Krisenherd dieser Erde vorbe¬reitet.
Aber immerhin war das ein Mann mit Herz und Seele. Ganz anders als der merkwürdige Typ an der Spitze eines weiteren Projekts, der sich immer lautlos durch die Räume schlich und den Gesprächen der anderen lauschte. Als Erstes weihte er seine Schützlinge in die Welt der allgegenwärtigen Verschwörungen ein, und dass das Gebot der Stunde höchste Wachsamkeit hie¬ße. Er verpflichtete sie, ihm über alles einen Bericht zu schreiben. Nach einem Jahr ABM hatte dieser Typ ein beeindruckendes Archiv von Akten angehäuft, nicht nur über die Aussiedler, sondern auch über das Personal des Jobcenters, das dieses Projekt betreute. Seine Vergangenheit ließ sich auch nach einem Jahr noch er¬ahnen.
Obwohl es solche Persönlichkeiten mit Ecken und Kan¬ten gibt, sind es in der überwiegenden Mehrheit ganz gewöhnliche Bürger. Etwas über fünfzig, ohne Aus¬sich¬ten auf einen neuen Job, eben die Verlierer der Wie¬dervereinigung und infolgedessen ziemlich sauer auf alles um sie herum. Für so einen bietet ein nicht rede¬gewandter Aussiedler ein gefundenes Fressen, ein Blitzableiter, um Frust abzulassen. Und erst recht, wenn er schon immer davon überzeugt war, „dass man das ganze DDR-Übel nur den ‚Russen’ zu verdanken habe und jetzt nicht verstehen kann, wieso man ausgerechnet die wieder ins Lande lässt, damit sie die Bundesrepublik nach Jobs und Sozialleistungen abgrasen.“ Er findet das ungerecht, ein neuerliches Versagen der realitätsfern gewordenen Politik, aber er wird sich den Mund nicht verbieten lassen und denen, die seiner Meinung nach hier nichts zu suchen haben, auch so richtig zeigen, dass sie hier nichts zu suchen haben. Und so verwandelt sich manchmal ein Ort der Integration in den Schauplatz ihrer Bekämpfung.
Weil aber die Zugezogenen ziemlich schnell keine Lust mehr haben, den fremden Frust bei so viel eigenem über sich ergehen zu lassen, bleiben sie den Projekten fern. Dann beschimpfen die selbst ernannten ‚Kämpfer’ für Gerechtigkeit sie wiederum als Integrationsunwillige und Integrationsverweigerer, die sich hier nicht einleben wol¬len. Und bemitleiden sich natürlich selbst, dass sie, die die von der Politik eingebrockte Suppe auslöffeln müs¬sen, dafür von der Arbeitsagentur nur mit einem Hunger¬lohn als ABM-Kraft abspeist werden.
Eine besondere Färbung bekommt die Integrations¬ar¬beit, wenn sich ihrer ein ebensolcher arbeitsloser Mitbür¬ger mit Migrationshintergrund annimmt. Weil sie aus verschiedenen religiösen und Bildungsschichten kom¬men, manchmal auch aus ganz exotischen Ländern, habe ich zum Beispiel schon einmal eine ‚orientalische Version’ mit ‚Oasen der Hoffnung’ für einen Zuwanderer, einer ‚Fata Morgana’ der unerfüllten Erwartungen und mit dem Postulat einer Vorliebe der Russlanddeutschen für Bauchtanz und Wasserpfeife bis hin zur ihrer an¬geblichen Begeisterung für afrikanische Trommelmusik und Voodoo-Kult erlebt. Besonders amüsant ist die Lei¬denschaft, mit der sich jede Version als die einzig wahre zu präsentieren versucht.
Im Ernst, wie soll einem Aussiedler, der noch keine Wohnung hat, keine Arbeit und die Sprache nicht be¬herrscht, ein Vortrag über ‚Die Intoleranz in der perua¬nischen Gesellschaft’ zugute kommen? Abge¬sehen davon, dass sich unsere Bauern aus den abgelegenen Dörfern ohnehin nicht um Vorträge reißen, und Gott weiß, ob sie jemals von Peru gehört haben, konnte ich sonst auch nicht verstehen, wie so ein Vortrag ihrer Integration förderlich sein sollte. Aber ein langzeitarbeits¬loser Kollege aus Lateinamerika konnte vom Arbeitsamt nicht untergebracht werden, verdarb die Statistik, und so hat man ihn ins Feld geschickt. Ich habe sogar schon erlebt, dass eine Schlangenbe¬schwörung als Integra¬tionsprojekt präsentiert wurde, ebenso wie ein anderes Mal ein Abend mit dem Auftritt eines Schamanen.
Aber auch meine Landsleute selbst tragen zu dem herr¬schenden Durcheinander mächtig bei. Zunächst einmal sind sie feige. Aus Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, wagen sie es nicht, den Mund aufzureißen und diesen Quatsch zu beenden, wenn sie so einem exotischen La¬den zugewiesen werden. Obwohl sie die Vorliebe der Russlanddeutschen für Didgeridoos oder Opiumpfeifen abnicken, trinken sie zu Hause nach wie vor ihren Wodka und sehnen sich zurück nach ihren Kuhställen im weiten Sibirien statt in den Weiten Australiens.
Für so manchen Sozialarbeiter ist die Aussiedlerinte¬gration so richtig zum Beruf geworden, und er hat sich im Laufe der Jahre zum leidenschaftlichen ‚Experten’ in dieser Sache entwickelt. Da ist es noch gut, wenn er sich die Zeit genommen hat, sie zu verstehen. Aber es gibt auch einige, die ihre Vorstellung von den ‚Russen’ aus ir¬gendwelchen Romanen von Dostojewski und oberfläch¬lichen Berichten haben, aber felsenfest daran glauben, besser zu wissen, was für die Aussiedler das Richtige ist. Weil dieser ‚Sachkundige’ aber nur flüchtig mit dem Thema vertraut ist, und weil das Arbeitsamt sowieso kein Konzept vorher mit den Betroffenen abstimmt, muss man schon manchmal staunen, welche realitätsfernen und wilden Lösungen für reale oder auch erfundene Pro¬bleme man bei den Sitzungen solcher ‚Expertenrunden’ zu hören bekommt. Als ich einmal versuchte, die un¬spektakuläre und öde russlanddeutsche Version vorzu¬bringen, wurde ich plötzlich als realitätsferner Spinner abgestempelt.
Sie sind sehr unterschiedlich, unsere Helfer bei der Inte¬gration. Ich bin zwar überzeugt, dass die meisten von ihnen es gut mit uns meinen und die Sache mit viel Einfall und Engagement angehen, aber … siehe am Anfang: Wenn ein Schuster anfängt, Brot zu backen ... Sie können wohl unübertroffen einen Zug Soldaten in die Schlacht führen oder perfekt einen Grab ausheben, uns über das Überleben im Dschungel berichten und mit exotischer Musik begeistern – von den Aussiedlern aber haben sie nicht viel Ahnung. Und wenn der Bäcker auch mit noch so viel Einsatz anfängt, Schuhe zu fertigen und ein Aussiedler auch mal lernen wird, die Wasserpfeife zu rauchen und sich zum Glauben an die Schamanen bekennt, integrieren wird er sich davon trotzdem nicht…

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