Ayca Alkan - Wir sind anders, ja (Jugendliche melden sich zu Wort)

Hördatei: 

Wir sind anders, ja

Ich habe nie verstanden, warum es überhaupt Grenzen gibt. Warum teilen wir unsere Welt in Tei-le auf? Warum wollen wir uns so schützen? Vor was wollen wir uns schützen? Vor den anderen Menschen, die genauso sind wie wir?
Für mich gehört es schon zum Alltag, ausgegrenzt zu werden. Mit sieben Jahren habe ich gelernt, was es bedeutet, Angst zu haben. Ich habe da-mals meine Heimat verlassen und meine Familie und ich wussten nicht, wohin wir sollten. Wir sind geflohen wie jeder andere Flüchtling. Solche Ge-schichten hört man heutzutage sehr oft, aber ich will, dass jeder meine Geschichte von mir hört und nicht von anderen erzählt bekommt.
Vielleicht denken viele, dass ich Angst hatte, mei-ne Heimat zu verlassen. Aber eigentlich hatte ich Angst vor den Menschen. Ich hatte Angst, dass sie mich nicht als einen wie sie anerkennen. Diese Angst hat sich bestätigt …
Ich bin wie andere Kinder zur Schule gegangen, habe Hausaufgaben gemacht und gelernt. Aber ich hatte trotzdem keine Freunde, und ich hatte keinen, der mich auch irgendwie aufnehmen und verstehen wollte. In der Schule war ich anders. Obwohl meine Mama immer gesagt hat, dass An-derssein gut ist, habe ich mich vom Gegenteil überzeugen lassen.
Nach der Grundschule kam ich auf eine weiterfüh-rende Schule, wo ich dachte, dass sich vieles än-dern wird. Ich habe angefangen, anders zu den-ken. Ich habe Antworten auf meine Fragen ge-sucht, aber ich habe keine Antworten bekommen. Alle anderen dachten, ich sei schlecht. Sie dach-ten, ich sei ein Feind, und wollten sich mir nicht nähern. Obwohl ich keinem etwas getan habe, war ich ihr Feind, und so wird es auch bleiben. Auch jetzt, wo ich in der achten Klasse bin, hat sich nicht viel verändert. Viele der anderen sehen mich als schuldig an und wollen nicht, dass Menschen wie wir in ihr Land kommen. Was ist denn so falsch an Menschen wie uns? Ich meine, wir haben doch auch ein Herz. Wir haben auch ein Gehirn. Wir haben auch Arme und Beine, und wir atmen auch genau wie ihr es tut! Vielleicht haben wir ei-ne andere Religion, eine andere Hautfarbe, aber wir sind auch Menschen, die es verdient haben zu leben.
Es ist eine meiner Fragen. Warum grenzt man sein Land ein? Damit ihr es verhindert, dass Menschen wie wir euer Land betreten? Das Land, das auf un-serer Welt ist? Einer Welt, die uns allen gehört? Ist das euer Ziel? Menschen eurer Art fernzuhalten, weil sie anders sind? Dann müsst ihr auch den Menschen, der neben euch, vor euch und hinter euch steht, aus eurem Land ausgrenzen. Denn dieser Mensch ist anders und nicht so, wie ihr es seid. Dann müsste jeder Mensch ein kleines Stück Land kriegen und seine Grenze ziehen, weil jeder Mensch anders ist.
Aber warum wird das nicht gemacht, wenn ihr es bei uns tut? Der Mensch neben euch könnte ein Mörder sein, und ihr seid im Gegensatz zu ihm harmlos. Egal, was wir tun, ob wir zur Schule ge-hen, um zu lernen, oder ob wir zur Arbeit gehen, um zu arbeiten, wir werden nie akzeptiert, und das macht mich traurig. Ich gehe zur Schule, um meinen Abschluss zu machen, um eine gute Arbeit zu bekommen und um dann meine Familie zu ver-sorgen. Das aber meint ihr, sei zu viel verlangt. Ihr seht es als unmöglich an. Und warum? Weil ich anders bin.
Denkt vielleicht einer daran, was für Probleme wir haben? Meine Mama ist krank und ich will ihr hel-fen. Mein Vater kann meine Geschwister und mich nicht allein versorgen. Zudem leiden wir alle an dem Tod meines Bruders. Und ihr findet es schwer, uns aufzunehmen? Ich will, dass einer vor mir steht, mir in die Augen guckt und mir sagt, wovor ihr bei siebenjährigen Kindern Angst habt! Habt ihr Angst, dass sie euer Land zerstören, oder warum sind wir eure Feinde?
Wenn ihr doch schon so viele schlechte Gedanken über uns habt, warum versucht ihr nicht, mit uns zu reden, um euch vom Gegenteil zu überzeugen? Wenn ihr schon so viel hinter unserem Rücken sagen könnt, dann sagt doch auch mal was in un-ser Gesicht. Oder habt ihr Angst, dass wir euch etwas antun?
Das Einzige, was wir wünschen, ist, dass wir ver-standen und aufgenommen werden. Mehr wollen wir nicht. Denkt daran, die, die ihr als eure Feinde seht, könnten auch vor Kurzem dabei zugeschaut haben, wie ihre Familie stirbt. Wir sind anders, ja. Aber ihr seid auch alle anders und nicht gleich.

Ayca Alkan (14 Jahre)
 

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