Banu Altun - Ich will das nicht (Jugendliche melden sich zu Wort)

Hördatei: 

Ich will das nicht

Kann man Angst und Mut gleichzeitig haben? Mangst? Oder Angut? So würde ich mich jetzt nämlich beschreiben. Mängstlich. Mehr ängstlich als mutig: Mit zitternden Knien und Schweißaus-brüchen. Mein Körper hat die Kontrolle über mich. Ich bin schwach.
Trotzdem wage ich einen weiteren Schritt nach vorne. Und noch einen. Will nicht. Muss. Früher oder später wird die Zeit kommen, und ich muss mich dieser mächtigen Substanz ergeben. Wieso nicht heute schon üben und versuchen, aus Mangst Angut zu machen? Angst, die sich dem Mut ergibt und von ihr abgeschlossen wird. Ich will zwar nicht, aber was ich will, spielt in dem Moment keine Rolle. Ich muss.
Noch ein Schritt. Beinahe falle ich hin, als ein viel zu motiviertes Kind an mir vorbeirennt und sich quietschend in die Substanz stürzt. In diese wabblige, rutschige Substanz. Bin ich die Einzige, die die Macht in den Molekülen dieser Flüssigkeit sieht, das Verhängnis, das in jedem Milliliter lau-ert? Anscheinend schon. Bevor ich es mir anders überlegen kann, hole ich tief Luft und wate hinein. Will nicht. Muss.
Wow. Es wird kühl um meine Fußknöchel, ich spü-re die kalten Fliesen nicht mehr so intensiv. Statt-dessen realisiert mein Gehirn vor allem das Schwappen der versuchten Substanz an meine Haut. Es stinkt. Ich atme durch den Mund, doch das macht alles nur noch schlimmer. Ich schme-cke das Gift. Sehe die Kinder lachen. Es sieht so einfach aus. Also mache ich weiter. Immer weiter. Will nicht. Muss.
Als ich das knallrote Seil erreiche, das die Grube teilt und mich daran erinnert, dass meine Fähig-keiten nur bis hier reichen, hat die Substanz meine Schultern erreicht. Ich bin umgeben von der versuchten Flüssigkeit, die versucht, durch meine substanzundurchlässige Kleidung zu dringen, sich an mir festzusetzen und mich runterzuziehen. Oder übertreibe ich nur? Ein Tropfen perlt an mei-nem Arm ab, als ich ihn anhebe. Ein Blick auf die große Uhr an der Wand zeigt: Ich bin schon viel zu lange hier. Ich muss das jetzt durchziehen. Dann bin ich erlöst.
Ich tauche unter dem Seil hindurch. Immer noch mit einem erhobenen Kopf. Gut. Also ein weiterer Schritt. Plötzlich habe ich keinen Boden mehr un-ter den Füßen. Bin zu frei, die Substanz über mei-nem Kopf, meine Arme leer, mein Gehirn ohne Orientierung, meine Lungen ohne Luft. Ich bin tot.
Oh, da ist der Beckenrand. Also doch nicht tot. Na gut. Wäre auch ein unschöner Anblick für die Kin-der gewesen. Was tun? Meine Finger krallen sich an den alten Stein, sind viel weißer als die verbli-chen gelben Fliesen. Bestimmt kommt das vom Gift.
Ich will das nicht. Aber wenn ich jetzt umkehre, muss ich nochmal herkommen und diese ganze Prozedur noch einmal über mich ergehen lassen. Ich muss es einfach lernen. Jetzt. Also lasse ich los, breite meinen einen Arm aus. Die andere umklammert noch den Rand. Dann lasse ich mich treiben. Tauche das Gesicht in die Substanz. Jetzt. Ich stoße mich kräftig ab, kein Beckenrand, nichts, woran ich mich klammern könnte. Nur ich und diese Flüssigkeit namens CVSW: chlorverseuchtes-Schwimmbad-Wasser.
Langsam, ganz langsam hebe ich meine Arme an. Bewege sie nach vorne und zurück, immer wieder. Langsam, ganz langsam, fange ich an zu schwimmen. Muss nicht. Will. Es ist keine Mangst, auch keine Angut.
Spielt auch keine Rolle. Irgendetwas ist es, und solange ich lebe und dieses Kind in der viel zu großen blauen Badehose mir nicht wieder mit sei-nem verschrumpelten Füßlein in mein Gesicht tritt, ist alles okay in meiner Welt. Die Okayness der restlichen Welt, na ja, … die sei mal so dahinge-stellt.

Banu Altun (16 Jahre)