Dieter Wöhrle - Bleierne Müdigkeit (Text des Tages)

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Bleierne Müdigkeit
Als die Beamten das Gelände räumten, stießen sie auf keinen nennenswerten Widerstand. Einige Besetzer, dem Anschein nach Obdachlose, Künstler und Späthippies, hatten ihnen sogar von ihren selbstgepflanzten Tomaten und Johannisbeeren angeboten, die sie in kleinen Parzellen inmitten der wild wuchernden Sträucher und Farne aufgezogen hatten.
Jedoch hatte ihnen der Einsatzleiter bestimmt, wenngleich nicht unhöflich zu verstehen gegeben, dass es sich hier um Baugelände handle. Darüber hinaus bestehe der Investor auf die sofortige Räumung des Geländes.
Die Besetzer blieben friedlich und auch gefasst, als man vor ihren Augen ihre Nutzpflanzen ausriss und ihre provisorisch errichteten Holzhütten niederwalzte.

Die beachtliche Strecke zum Haus seines Vaters, die er jeden Abend auf seinem Fahrrad zurücklegte, war für ihn inzwischen schon fast Routine geworden. Einmal in Fahrt, nahm er sogar die ständig an ihm nagende Müdigkeit kaum noch wahr. Kein unlösbares Problem also. Das, was vor ihm lag, schon eher.

Tom war wie immer von zu Hause in Friedrichshain losgeradelt, hatte bereits Kreuzberg, Mitte mitsamt dem Tiergarten hinter sich gelassen und steuerte nun auf Charlottenburg zu. Die frühen Morgenstunden hatte er seinem Nebenjob gewidmet und Post ausgetragen, ab 9 Uhr war er seinem eigentlichen Beruf, seiner Berufung nachgegangen: Gitarrenunterricht. Nur wenige Lichtblicke hatte er unter seinen Schülern erlebt, Kinder, unverdorben, putzig, mitunter sogar witzig. Dagegen handelte es sich bei den meisten um untalentierte, größenwahnsinnige und überhebliche Jungerwachsene, denen die handwerkliche Kunst des Gitarrespielens ebenso gleichgültig war wie er selbst. Sie schienen ihre reichlich bemessene Freizeit mehr dem Traum von ihrer Blitzkarriere in einer dieser Casting Shows zu widmen als dem mühevollen Einüben von Spieltechniken. Zwischendurch hatte er mehrere Telefongespräche geführt, in denen er um die ihm vertraglich zugesicherten Kursgebühren gebettelt hatte, stets darauf gefasst, dass wieder jemand absprang und seinen Vertrag kündigte.

Charlottenburg, sein alter Kiez. Viele neue Bars und Restaurants waren hier entstanden, schick und teuer. Tom gestand sich ein, dass er selbst jahrelang nichts mehr dergleichen besucht hatte und sich daran wohl für den Rest seiner Tage auch nichts ändern würde. Keine Chance. Beim Durchfahren der Bleibtreustraße kam ihm das Go In in den Sinn, das sich in den 70-er Jahren hier befunden und ihm zu seinen ersten erfolgreichen Gigs verholfen hatte. Charlottenburg in den Siebzigern. Go In, Steve Club, Folk Pub. Tolle Zeiten hatte er hier erlebt, war in wenigen Jahren zu einem Meister des Fingerpicking und gefragten Studiomusiker der damals angesagten Liedermacher geworden. Gefragt, sogar international. Hatte auf Platteneinspielungen britischer Folkgrößen in Edinburgh und London mitgewirkt. Sich davon ernährt, und das nicht einmal schlecht.

Auf dem Heimweg von Charlottenburg in Richtung Friedrichshain hatte Toms Laune ihren Tiefpunkt erreicht. Die Demenz seines Vaters hatte sich in den letzten Wochen spürbar verschlimmert, Auch heute hatte er Tom wieder nicht erkannt und sich aggressiv gewehrt, als dieser ihn unter großer körperlicher Anstrengung zur Toilette gebracht und gewaschen hatte. Und die Dame, die Tom als Tagespflege angestellt hatte, war ihm besonders mürrisch erschienen und hatte von einem ganz schwierigen Fall gesprochen. Gut möglich, dass sie schon bald mehr Geld verlangen würde.

Wieder ging es an zahlreichen, inzwischen hell erleuchteten Lokalen vorbei, in denen sich Leute vergnügten, scheinbar sorglos und den Anforderungen des Lebens gewachsen. Tom fühlte sich elend. Ausgegrenzt, allein und leer. Für einen Augenblick kam es ihm in den Sinn, dass er ebenfalls ein Recht auf Freizeit hatte, er, der schließlich auch sein Leben lang gearbeitet und sich weitergebildet hatte, als Gitarrenlehrer aller Stilrichtungen seit über 30 Jahren. Mechanisch setzte er seinen Weg fort, denn inzwischen war seine Müdigkeit zurückgekehrt und vernebelte jeden klaren Gedanken.

Zu Hause fand er einen Brief der Hausverwaltung in seinem Briefkasten: Mieterhöhung ab dem nächsten Monat. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und fing an mit Zahlen zu jonglieren. Immer klarer wurde ihm, dass sein Leben in Zukunft zu einem Minusgeschäft wurde. Keine Chance mehr auf Studiojobs oder gut bezahlte Auftritte. Nur noch Unterricht, der mit jedem Monat weniger einbrachte. Das lächerliche Zubrot als Postzusteller. Die ständige Sorge um seinen Vater. Und die verdammte Müdigkeit, die schon nach dem Aufstehen einsetzte und ihn den ganzen Tag nicht mehr losließ.

Als er aufsah, fiel sein Blick auf seine Schätze, die an der Wand lehnten und sich in ihrer ganzen Schönheit bewundern ließen. Martin D38, Baujahr 1972, Fender Telecaster, späte 60-er Jahre, Les Paul mit Goldrand, ebenfalls nicht mehr jung. Auch sie würden seine Probleme nicht wirklich lösen, das wusste Tom. Denn längst waren der Welt die Liebhaber ausgegangen, die bereit waren, für Vintage-Gitarren hohe Summen auszugeben.

Aus die Maus. Endgültig vorbei. Ende Banane. Er würde alles vergessen, zurück- und hinter sich lassen. Die ganzen untalentierten und faulen Karriereschnösel aus ihren reichen Häusern. Den vermaledeiten Postzustellerjob. Die ewigen Sorgen um seinen Vater. Seinen Vater, der ihn ohnehin nicht mehr kannte und nach ihm schlug, wenn er sich ihm auch nur näherte. Die viel zu hohe Miete. Und die ständige Müdigkeit.

Er erinnerte sich an den Bericht über die Neuköllner Pflügerstraße, den er einige Tage zuvor im Radio gehört hatte. Aussteiger aller Altersgruppen hatten sich auf einem brachliegenden Gelände niedergelassen, Lauben errichtet, ihr eigenes Gemüse gepflanzt, das Leben neu entdeckt. Immerhin, einen Versuch war es wert.

Als Tom am nächsten Tag mit seinem Fahrrad vor dem Gelände ankam, fand er es umzäunt und verriegelt vor. Ein uniformierter Polizist vor dem Tor erklärte ihm freimütig, die Penner seien ohne großen Stress verscheucht, ihr Müll ebenfalls bereits entsorgt worden.

Wie ferngesteuert bestieg Tom sein Rad, fuhr langsam die Straße entlang. Doch so sehr er sich bemühte, er konnte an nichts Greifbares denken. Denn sie war zu ihm zurückgekehrt und hatte seine Gedanken in Watte verwandelt. Sie, seine Dauerbegleiterin. Die bleierne Müdigkeit.

 

Dieter Wöhrle
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