Dieter Wöhrle: Doch nur für einen Augenblick (Text des Tages, gelesen vom Autor)

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Doch nur für einen kurzen Augenblick
Die Sonne schien, als sie die Straße betrat. Das passte. Barbara wusste, heute würde etwas passieren, endlich. Sie atmete tief durch.

War ja auch viel zu lange ruhig gewesen. Jahre der Auszeit, in denen Ängste, Beklemmung und Unbehagen in ihr gewachsen waren wie Krebsgeschwüre.

Sie ging die kurze Strecke zur Bushaltestelle in Gedanken versunken, passierte dabei eine Gruppe Jugendlicher, die den ganzen Bürgersteig in Beschlag nahm mit ihren Schubsereien, Kickbox-Demonstrationen und Tänzen zu Musik aus überdimensionierten Smartphones. Die Sprüche, die sie dabei vernahm, brachten in Barbara wieder dieses Gefühl, bedroht zu werden, hoch. Doch nur für einen kurzen Augenblick.

Im Bus suchte sie sich einen Platz auf dem Oberdeck und versuchte, ihre Angst zu bekämpfen. Hatte sie es eigentlich nötig, sich ständig und überall bedroht zu fühlen, mit jedem Jahr kleiner, gehemmter und passiver zu werden? Sie, Barbara Brecht?

Sie dachte an die Jahre, in denen sie noch mit Peter eine Druckerei betrieben hatte. Eine Druckerei, zu deren Stammkundschaft immerhin auch der SDS und andere APO-Organisationen gehört hatten. Dachte an ihren Optimismus, auch als die Druckerei wegen ausbleibender Zahlungen den Bach runtergegangen und Peter mit seiner neuen Freundin nach Spanien abgedampft war. Wie wichtig es ihr bei der Scheidung gewesen war, Peters Nachnamen zu behalten: Barbara Brecht, das machte schon was her. Immer war sie aktiv, vorantreibend gewesen. Auch als sie Sven allein zu einem halbwegs vernünftigen Menschen großgezogen hatte. Dachte an die Jahre, in denen sie Sven und sich selbst mit ihrer Arbeit als Grundschullehrerin über Wasser gehalten hatte. Immer aktiv, immer vorantreibend, immer optimistisch.

Und heute? Inzwischen lebte sie allein in der viel zu großen Wohnung, ging sie nur noch ungern aus und bekam sie selten Besuch. Auch Sven wohnte längst mit seiner Freundin zusammen und schaute nur noch gelegentlich vorbei. Und sie ängstigte sich mehr und mehr vor allem, was auf sie zukam: der angedrohten Räumungsklage des Hausbesitzers, der sie loswerden wollte, weil sie eine Katze hielt, den Briefen von der Bank mit ihren Geldanlagemodellen, die sie nicht durchschaute, den E-Mails, die „Auftragsbestätigung“, „Rechnung“ oder „Zahlungserinnerung“ im Titel führten und die Sven bei seinem letzten Besuch als Spam bezeichnet hatte, also etwas, das sie nie öffnen durfte.

Heute, so schien es ihr, bestand ihre Lebensqualität nur noch aus der Summe des Unglücks, das sie nicht heimsuchte.
Als sie den Bus verließ, fühlte sie sich niedergeschlagen und allein. Doch nur für einen kurzen Augenblick.

Denn nun war Schluss. Sie, Barbara Brecht, würde den Spieß umkehren. Würde wieder agieren. Sich das Leben zurückholen. Wieder Subjekt werden. Etwas tun. Zeichen setzen. Jetzt.

Sie betrat den Lebensmitteldiscounter und sah sich um. Noch vor 20 Jahren war sie in ihrer Stadtteilgruppe gegen den Konsumterror der Konzerne und die Ausbeutung der Dritten Welt zu Felde gezogen. Und hier türmte er sich auf, der ganze Billigschrott, den jeder irgendwie zum Leben braucht und keiner wirklich möchte.
Sie vergewisserte sich, dass ihr niemand zusah, als sie die zwei Schokotafeln in ihrer Jackentasche verschwinden ließ. Auch die Kasse bereitete überraschenderweise keine Probleme. Sie stellte die Flasche mit dem Flüssigwaschmittel auf das Band, bezahlte und wünschte einen guten Tag.

Am Ausgang verstand sie jedoch nicht sofort, dass das schrille Gejaule der Sirene ihr galt. Und begriff auch nicht, woher die beiden Herren so plötzlich gekommen waren, die sie baten, ihnen unauffällig zu folgen.

Als sie eine Stunde später wieder auf der Straße stand, stellte sie fest, dass eigentlich nicht viel passiert war. Ein hinzugerufener Polizist hatte ihren Ausweis verlangt, ihre Personalien aufgenommen und ihr mitgeteilt, dass sie in jedem Fall mit einer Anzeige zu rechnen habe.

Aber sie, Barbara Brecht, hatte den Spieß umgedreht. Hatte agiert. Sich das Leben zurückgeholt. War wieder Subjekt geworden. Hatte etwas getan. Zeichen gesetzt. Gerade eben.

Auf dem Weg zurück zur Halteselle konnte sie in einem Schaufenster ihr Spiegelbild sehen. Sie blickte hinein und versuchte zu lächeln. Ihr Lächeln war zu einer Fratze geraten.

Sie nahm es wahr und spürte die Angst. Doch nur für einen kurzen Augenblick.

 

Berlin, 12.08.2014

Dieter Wöhrle
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