Dieter Wöhrle - Veränderungen (Text des Tages)

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Veränderungen
Dieser Besitzbürgermief! Diese sterile Sauberkeit! Diese unwirkliche Ruhe!

Etwas ratlos steht Daniel in der Straße, in der er 18 Jahre seines Lebens verbracht und die er vor drei Jahren gegen einen neuen Kiez eingetauscht hat. Zwischen frisch renovierten und neu hochgezogenen Häusern, in denen bestimmt viel Geld wohnt. Kaum ein Mensch unterwegs, schon gar keine alten Bekannten.

Nur an der Ecke, vor dem Buchcafé, herrscht Leben. Da stehen welche davor, diskutieren aufgeregt, fluchen, fuchteln mit den Armen.

Daniel schließt die Augen, versetzt sich zurück in seinen alten Schmuddelkiez mit den verrauchten Eck- und angesagten Szenekneipen. Die ersten Punks, die sich hier breitmachten. Die Friedensbewegten, die Aktivisten der Stadtteil- und der Schwulengruppen. Die wilden Feten in seinem Haus. Alles war spannend damals, sogar das Einkaufengehen.

Er erinnert sich genauer, muss sich eingestehen, dass das mit der Schickifizierung eigentlich schon damals einsetzte. Schleichend, anfänglich kaum wahrnehmbar. Allmählich weniger Bier, mehr Prosecco. Weniger Kaffee, mehr Latte Macchiato. Weniger Buletten, mehr Lachsfilet. In diese Zeit muss wohl auch die Eröffnung des Buchcafés gefallen sein, dessen regelmäßiger Kunde er selbst während seiner letzten Jahre hier war.

Und er? Hat er sich denn nicht auch verändert? Sicher, viel ist passiert, seit er vor fünf Jahren mit dem Schreiben anfing. Stabiler ist er geworden, hat seinen eigenen Stil entwickelt und in zahlreichen Erzählungen umgesetzt.

Heute kann er schmunzeln, wenn er daran denkt, wie er damals mit seinem ersten Kurzgeschichtenband im Buchcafé vorsprach, in der Hoffnung, man würde ihm gratulieren, ihm eine Lesung oder den kommissarischen Vertrieb seines Erstlingswerks anbieten. Kann sogar über seine Enttäuschung schmunzeln, als er schnöde und kalt abgewiesen wurde. Und vom Betreiber des Buchcafés fortan nicht mehr gegrüßt.

Heute kann er schmunzeln, kann er froh sein, dass es kam, wie es kam. Denn da, wo er jetzt wohnt, läuft es besser, wird er manchmal von Café- und Ladenbesitzern zu einer Lesung eingeladen, bei der er seine Bücher ans Publikum verkaufen kann. Immerhin.

Und hier wohnen möchte er ohnehin nicht mehr. Zwischen frisch renovierten und neu hochgezogenen Häusern, in denen bestimmt viel Geld wohnt. Zu steril, zu sauber. Und auch zu ruhig.

Nur an der Ecke, vor dem Buchcafé, stehen sie noch immer, hat die Aufregung zugenommen, gestikulieren sie immer wilder, werden sie immer lauter.

Daniel glaubt inzwischen sogar vereinzelt unflätige Ausdrücke herauszuhören zu können, ist sich jedoch nicht sicher. Als er den Laden vor einer halben Stunde nach einem Cappuccino verließ, war jedenfalls noch alles friedlich. Zuvor war er kühl, jedoch korrekt bedient worden.  Niemand hatte ihn erkannt.

Und es war auch nicht besonders schwierig gewesen, die drei Stinkbomben, die sich aus seiner Kindheit herübergerettet hatten, unbemerkt auf dem Parkettboden zu parken und zu zertreten.

Er schlendert in Richtung U-Bahnhof, ist ganz froh, nun die Heimreise anzutreten. Denn das hier ist nichts mehr für ihn. Besitzbürgermief. Sterile Sauberkeit. Unwirkliche Ruhe.

 

Berlin, 2.9.2014

Dieter Wöhrle
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