Ece Ülker - Es gibt keine Grenzen (Jugendliche melden sich zu Wort)

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Es gibt keine Grenzen

Hoffnung und Träume halten viele Menschen stark. Doch meine Hoffnung wurde wie ein Blatt Papier zerknüllt und weggeschmissen. Wie ein Glas runtergeworfen. Und das hat Scherben in meinem Herzen verursacht.
Ich glaube, ich kann nicht genau erklären, warum ich dies mache. Warum ich auf ein Blatt Papier meine Gedanken und Gefühle schreibe, obwohl ich weiß, dass ein Mensch in meinem Leben dieses Blatt nehmen und wegschmeißen wird. Aber die Jahre haben mir eben gezeigt, dass man niemandem vertrauen kann außer sich selbst. Deshalb ist es die einzige Möglichkeit, meine Gefühle und Gedanken auszudrücken, sie auf ein Blatt Papier zu schreiben.
Als fünfjähriges Mädchen hat man die Hoffnung auf ein neues Spielzeug, auf den Traum von Einhörnern und auf das Wunder, eine neue Serie zu sehen. Doch meine Hoffnung war anders. Die einzige Hoffnung, die ich hatte, war ein besseres Leben ohne Gewalt und ohne Angst vor dem Leben oder dem Tod. Ich habe da ja nicht viel verlangt. Nach dem Tod meiner Mama war ich der Realität ein Stück nähergekommen. Statt abends mit meiner Familie einen schönen Film zu gucken, musste ich ertragen, wie in meiner Nähe Bomben einschlugen. Ich glaube, niemand wird jemals verstehen können, wie es sich anfühlt, morgens mit Raketen und Bomben aufzustehen und sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob dieses Mal Freunde oder Bekannte unter den Toten sind. Wie es sich anfühlt, eines Tages aufzustehen, sich das Nötigste zu schnappen und zu fliehen. Wie es sich anfühlt, Tage und vielleicht Wochen auf dem Weg in ein besseres Leben zu sein, ohne eigentlich wirklich zu wissen, wohin es geht. Wie es sich anfühlt, jeden Abend weinend einzuschlafen, weil man Sehnsucht nach seiner Mutter hat. Ja, ich glaube, niemand wird jemals verstehen können, wie hoch die Sehnsucht ist, sich auf den Schoß der Mutter zu legen und mit den aufmunternden Worten für den nächsten und vermeintlich besseren Tag einschlafen zu können. Niemand wird jemals vor Augen haben können, wie wir am Boden zerstört waren, aber trotzdem stark geblieben sind, weil wir wussten, dass wir noch etwas hatten, das uns auf den Beinen hielt. Und noch eine weitere Sache wird niemand jemals verstehen können. Niemand wird verstehen können, wie es sich anfühlt, dann in Sicherheit zu sein, endlich einmal aufatmen zu können und nicht mehr Angst vor dem Tod zu haben.
Aber trotzdem scheine ich in diesem Land nicht willkommen zu sein. Ist es etwa die Kleidung, die uns zu dem macht, die wir heute sind? Ist es die Sprache, die dazu führt, dass man einander nicht versteht? Sind es die Blicke, die einem zeigen, dass man nicht willkommen ist? Oder sind es die Grenzen, die wir Menschen setzen?
Trotzdem! Seit ich die Grenzen, die man mir setzte, nicht mehr anerkenne, nicht mehr als Grenze erlebe, spüre ich erst, wie stark ich eigentlich bin. Wie grenzenlos ich eigentlich sein kann!
Denn als Grenze muss man nicht nur die Trennung von zwei oder mehreren Ländern sehen. Eigentlich kommt es ja darauf an, wie man das Wort Grenze definiert.
Denn eigentlich sollte doch alles wie im Märchen grenzenlos sein.
Denn es gibt keine Grenzen. Weder für Gedanken noch für Gefühle. Es ist die Angst, die uns immer wieder Grenzen setzt. Denn wer seine eigenen Grenzen nicht kennt, so heißt es ja, findet nur sehr schwer die richtige Distanz zu anderen.
Eigentlich sind wir doch alle gleich. Das Einzige, das uns voneinander unterscheidet, sind unsere Hautfarbe, unsere Kultur, unsere Religion, unser Charakter und unser Aussehen.
Aber ich denke, dass dies eh niemand verstehen wird. Und deshalb wird dieses Blatt auch immer ein zerknüllter Haufen Müll bleiben