Hannah Mülders - Verwunde(r)t - (Jugendliche melden sich zu Wort)

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Verwunde(r)t

Es war wie an jedem anderen Morgen auch. Es war nichts Besonderes mehr. Der Blick in den Spiegel enthüllte Narben, oberflächliche Schnitte und blutverschmierte Unterarme. Der Anblick war zur Gewohnheit geworden, sie konnte scheinbar nichts mehr erschüttern. Anders der Blick in die tiefbraunen Augen: verzweifelt, hoffnungslos, durchdringbar. War die allerletzte Grenze erreicht?

Die Rede ist von mir, Helena, 17 Jahre alt, bulimiekrank. Oder wie es all die nennen, die mir helfen wollen: Bulimia nervosa. Wie es dazu kam? Ich fühlte mich ständigem Druck ausgesetzt, mithalten zu können, gut genug zu sein. In diesem Wettkampf änderte sich auch meine Wahrnehmung über meinen Körper. Ich akzeptierte mich nicht mehr so, wie ich war. Ich folgte anderen Maßstäben, völlig absurd, die andere scheinbar für wichtig hielten und sich danach definierten. Ich wurde animiert und animierte mich später dazu, meine eigene Grenze zu überschreiten. Mit fatalen Folgen.

Mein Körper war für mich ein einsamer Kokon, ich fühlte mich nicht wohl und kämpfte dagegen an. Ich akzeptierte meinen Körper nicht als Teil des Ganzen, sondern betrachtete ihn als Feind. Er belastete mich, ließ mich leiden, ferner redete ich mir das ein.
Ich hielt es für richtig, was ich tat, fühlte mich angespornt von Mut zusprechenden Menschen aus Internetforen und anderen Gleichgesinnten, ließ mir nicht helfen. Hilfe war aber bitter nötig, um einzusehen, dass meine eigene Grenze – physisch wie psychisch – lange überschritten war. Dass das, was ich tat, keineswegs richtig war, mich nicht weiterbrachte. Ich war lange vom richtigen Weg abgekommen und konnte so auch nicht zurückfinden. Die eigene imaginäre Grenze im Kopf ist viel zu leicht zu verlieren und viel zu schwer wieder zu finden.

Ich fühlte mich durch das, was ich mir selber antat, ein Stück besser und zog es durch, auch wenn es mir sehr schlecht zu gehen schien. Ich schaltete es aus, spürte nichts mehr. All dieser Schmerz, es war das, was mich noch besser fühlen ließ, diese Grenzüberschreitung. Diese Kontrolllosigkeit, das Gefühl von völligem Verlust. Sie gab mir das Gefühl, das ich mir sehnlichst gewünscht hatte.

Ich eiferte etwas nach, was vollkommen krank war. Nach zahlreichen Grenzerfahrungen und starken körperlichen Beeinträchtigungen war die absolute Schmerzgrenze erreicht. Ich sah ein, dank vieler Hilfe, dass es so nicht weitergehen konnte. Schlussendlich aber musste ich selbst einsehen, wann meine eigene Grenze erreicht war. Nach jahrelangem Kampf und einem stetigen Ringen mit mir selbst war ich bereit, mich auf den Weg zu meiner eigenen Grenze zu machen.

Grenzerfahrungen werden Teil eines jeden Lebens sein – dabei sollte nicht vergessen werden, welche man freiwillig und frohen Mutes wagt und welche man aus purer Verzweiflung tut, ohne sich möglicher Konsequenzen bewusst zu sein.

Wir alle haben unsere Grenzen. Jeder Einzelne von uns. Es liegt an uns, diese zu erkennen, zu respektieren und zu akzeptieren. Helenas Geschichte ist Zeugnis davon, was mit einem Menschen passiert, wenn man dies nicht tut. Oder wenn es womöglich schon zu spät dafür sein kann.

Hannah Mülders (18 Jahre)

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