Helga Thorwart-Bönker: Maikäfer flieg (gelesen von Verena Arlinghaus)

Hördatei: 

Maikäfer flieg
Helga Thorwart-Bönker

aus: '... den Weg gefunden. Ein lesebuch der Landfrauen des Landkreises Osnabrück'

Endlich ist es wieder Frühling, jedenfalls auf dem Kalender. Es muss nur noch die Sonne höher steigen und die Erde wärmer werden, dann schlüpfen auch die Maikäfer aus dem Boden und fliegen bei ihren ersten Flugversuchen in die Bäume.
Vor vielen Jahren wurde oft gesagt, es gebe keine Mai-käfer mehr. Ich glaube, das war nur so ein Gerede. Man schaute nicht mehr hin. Es wird auch in diesem Frühling viele Käfer geben, denn beim Durchsetzen des Komposthaufens habe ich reichlich Engerlinge, die zu Käfern werden, gefunden.
Was war das früher für ein Spaß für uns Kinder, wenn wir den ersten Maikäfer unter einem Eichbaum fan-den. Nun wurden wir aktiv. Unsere Väter opferten eine Zigarrenkiste, und in den Deckel wurden kleine Löcher gebohrt. Jetzt noch eine Bohnenstange gesucht, dann zogen wir los. Wo war die schönste Eiche, die unten viel Laub hatte, sodass wir es mit unserer Stange errei-chen konnten? Aus Leibeskräften schlugen wir mit der Stange hinein – und es lohnte sich. Einige Käfer fielen zu Boden. Schnell wurden sie aufgesucht und in dem Kasten verstaut. Einige Blätter kamen dazu. Die Tiere sollten doch nicht hungern.
Jetzt wurde erst einmal geschaut, was wir gefunden hatten. Es gab verschiedene Sorten Maikäfer. Am häu-figsten fanden wir ‚Müller’, wie wir sie nannten. Sie sahen aus wie mit Mehl überpudert. Dann gab es noch die ‚Schuster’, die vorne einen braunen Schild hatten. Die mit dem schwarzen Schild waren die ‚Schornstein-feger’. Nach einigem Hin- und Hertauschen – zwei ‚Müller’ für einen ‚Schuster’ und so weiter – mussten die Tiere krabbeln. Wir ließen sie auf unseren Armen bis zu den Fingerspitzen laufen und schnapp, holten wir sie wieder zurück. Oder wer mutig war, setzte sie sich auf die Nase, bis es unseren Eltern zu viel wurde. Bald sagte einer von ihnen: „Lasst die Käfer wieder fliegen. Es tut ihnen doch weh!“ oder „Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz!“ Wir sahen es ja ein, aber so einfach fliegen lassen? So setzten wir uns auf die Bänke, die um einen Tisch, der draußen unter den Eichen stand, gestellt waren, die Schachteln in die Mitte. Wir stützten unsere Ellenbogen auf die Platte, die Fingerspitzen nach oben ge-streckt. Nun durften die Käfer einer nach dem anderen an unseren Armen hochklettern bis auf den Mittelfin-ger, den längsten, dann die Flügel entfalten und mit Gebrumm abhauen. Dazu sangen wir „Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg, deine Mutter ist in Pommer-land, Pommerland ist abgebrannt, Maikäfer flieg!“
Was sollte das Lied nun bedeuten? Sang man den Text nur so dahin, weil er sich gut reimte? Oder sang man es für die Käfer oder für die Kinder? Ja, es war Krieg, einige Väter von unserer Gruppe waren im Krieg, die Käfer ja nicht. Deine Mutter ist in Pommerland, das abge-brannt ist. Das liegt im Osten, dort war der Krieg schon vorbeigezogen, und Häuser waren abgebrannt. Zwei Kinder waren nach hier geflüchtet, aber mit ihren Müt-tern. Ich stellte mir vor, dass in Pommern ein Waldbrand war, wie hier in unserer Bauernschaft. Als einige größere Jungen am Waldrand Pudding kochen wollten, lief ihnen das Feuer bis ins Holz, sodass die Feuerwehr kommen musste, um zu löschen. So kamen die Käfer vielleicht ums Leben.
‚Maikäfer flieg’, das war der Ruf, den wir verstanden: Flieg und lass es dir gut gehen.

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