Irmgard Münnich - Ein Blatt (Gedicht des Tages)

Hördatei: 

Ein Blatt

 

 

Ein Blatt, das herbstens sich gelöst vom Baum,

halb taumelnd noch, halb sonnentrunken schwebend,

sich senkend und – vom Wind getragen – hebend

und über mir dahinflog durch den Raum.

 

Ein Blatt, das mir zu Füßen niedersank

in seinem satten Gelb und Rot und Braun,

begegnet ist mir‘s wie ein Freund am Gartenzaun,

wo ich der letzten Astern stilles Blühen trank.

 

Ein Blatt. Es bleibt ihm noch ein Weilchen bis zum Tod.

In später warmer Sonnenfülle ich‘s betrachte:

Ein Bote, der Gedanken aus der Ferne überbrachte,

Gedanken, die ich brauche wie das täglich Brot.

 

Ein Blatt, an dem die letzten Tropfen Tau noch hingen,

hat heut‘ mich sacht in seinen Bann gezogen:

Wie oft hat, ach, der Schein des Großen schon getrogen,

zu danken hab‘ ich stets den kleinen Dingen.