Johann Warkentin - Verkehrte Welt (russlanddeutsche Autoren stellen sich vor am 25. März)

Hördatei: 

Verkehrte Welt


Für alles, alles, alles fand sich Zeit!
Den Führerschein noch irgendwie zu machen,
ein Haus zu kaufen oder zu verschachern;
Belege mussten her - da war kein Weg zu weit!

Für alles fand sich Zeit - nicht für die Sprache!
Das schaffe ich mit links, die Kleinigkeit
erledige ich drüben, später, nachher:
„M'r sein jo Deitsche!“ . . . Und jetzt kommt das Leid.

Und kommt auch die moralische Entrüstung:
Was in dem Ausweis steht, will keiner wissen –
sie wollen Deutsch von mir, nicht Russisch hören!

Dort war mein gutes Russisch für die Katz —
die Pass-Inschrift war aller Dinge Maß.
Wie soll man sich da, sag mir, nicht empören?

WARKENTIN, Johann, 11.5.1920 Spat auf der Krim, Lyriker, Kritiker, Nachdichter, Redakteur, Publizist, Pädagoge und Lehrbuchautor. Nach der Schule Anglistikstudium in Leningrad von 1937, durch den Krieg unterbrochen, im ersten Blokadewinter Militärdolmetscher, 1942/46 Deportation nach Ostsibirien und Zwangsarbeit in der Taiga, dann illegale Rückkehr zum Studium, ab 1948 wieder in Sibirien, anschließend Sprachlehrer (Englisch, Deutsch, Latein) an Schulen und Hochschulen in Gorno-Altaisk, Barnaul, Alma-Ata und Ufa, aktiv bei der Neubelebung der russlanddeutschen Literatur der Nachkriegszeit und der Autonomie-Wiederherstellung, 1969/80 Literaturredakteur der Wochenschrift „Neues Leben" in Moskau, 1981 Übersiedlung nach Deutschland (Ostberlin). Hat einen individuellen Sprachstil, assoziations- und wortschatzreich.

 

aus Wendelin Mangold: Rußlanddeutsche Literatur. Lesebuch. Stuttgart 1999