Katharina Prinz - Keine Auskunft (Jugendliche melden sich zu Wort)

Hördatei: 

Keine Auskunft

Ich gehe ein Stück, laufe. Meine Beine tragen mich. Kontinuierlich meine Schritte. Links, rechts, links, rechts setze ich meine Füße voreinander. Plötzlich stoppe ich.

Mit der Nase stoße ich beinahe gegen eine Mauer. Vorsichtig lege ich meine Hand auf die Steine, die von meinem Atem feucht werden.
Das Ende der Mauer kann ich an beiden Seiten nicht erkennen, und auch in der Höhe ragt sie weit über die Wolken hinaus. Ich spüre den kal-ten, feuchten Stein, und es ist so, als ob ich der Erste wäre, der jemals so nah vor ihm stand. Ei-nen Moment versinke ich in der Mauer, doch dann schaue ich mich um.
Ich sehe viele Menschen, sie eilen an mir und der Mauer vorbei. Sie haben Handys in der Hand, kommen vom Einkaufen, gehen zur Arbeit oder ziehen kleine Kinder hinter sich her. Niemand scheint sich an der Mauer zu stören. Doch dann sehe ich einen alten Mann mit Hut und Stock mit strammen Schritten direkt auf die Mauer zueilen. Geradewegs läuft er auf mich zu, er kommt immer näher. „Stopp!“, rufe ich, als er fast mit dem Kopf gegen den harten Stein knallt. Doch da hat er schon eine scharfe Kurve eingelegt und läuft in die entgegengesetzte Richtung weiter. Eine Frau, die gegenüber auf einer Parkbank sitzt und ver-träumt in den Himmel schaut, scheint die Mauer überhaupt nicht zu sehen. Ich setze mich ebenfalls auf die Bank und beginne ein Gespräch. Zu meinem Erstaunen kennt die Frau weder die Her-kunft noch den Zweck der Mauer. Die „Grenze“ so, wie sie sie kennt, war schon immer da. Und was sie voneinander trennt, ist schon lange nicht mehr bekannt.
Auch die anderen Menschen können mir keine Auskunft über die Grenze geben. Niemand kann mir sagen, wer sie gebaut hat oder was sich auf der anderen Seite befindet. Jedoch will sich auch keiner länger mit mir über die Mauer unterhalten oder etwas über das Bauwerk erfahren. Den Menschen ist sie egal. Sie mögen die Mauer nicht, doch würden sie sie auch niemals einreißen. Denn die Mauer war immer schon da, sie hat nie jeman-em geschadet. Und solange niemand danach fragt, spielt sie auch keine Rolle.

Sie leben vor sich hin, gehen ein Stück, laufen. Ihre Beine tragen sie. Kontinuierlich meine Schrit-te. Links, rechts, links, rechts setze ich meine Füße voreinander. Plötzlich stoppen sie und denken trotzdem nicht weiter als bis zur Grenze.

Grenzen im Kopf, Grenzen im Land und Grenzen im Herzen. Und keiner traut sich mit der Nase auch nur ein Stück näher an die Mauer heran!

Katharina Prinz (20 Jahre)