Lina Kohestani - Heute hatten wir wieder mehrere Tote (Jugendliche melden sich zu Wort)

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Heute hatten wir wieder mehrere Tote

Heute hatten wir wieder mehrere Tote. Einer von ihnen hatte so wenige Überlebenschancen, dass ich die Entscheidung treffen musste, ob ich ihn wiederbelebe. Wie immer habe ich mein Bestes gegeben, denn ich möchte alles dafür tun, um ein Menschenleben zu retten. Er hat es leider nicht geschafft und hinterließ Frau und Kinder. Der Krieg nimmt den Menschen alles. Sie sind unschuldig und leiden unter Verlusten und Verletzungen. Heute fragte mich ein Kind, wie es ist, glücklich zu sein. Glück ist, kein eingegrenztes Leben zu führen.
Ich kann nicht für jeden Einzelnen von ihnen trauern. Dafür gibt es einfach keine Zeit, denn nach zwölf Arbeitsstunden pro Tag bleibt wenig Zeit für Schlaf, Essen oder einen Anruf nach Hause. So ist halt der Alltag als Arzt ohne Grenzen. Ich bin aber nicht abgehärtet. Ganz im Gegenteil, denn es wird jeden Tag härter.
Heute ist es Libyen, morgen wird es vielleicht der Irak oder Afghanistan sein. Nicht Deutschland, nicht Australien oder Amerika. Wenn ich meine Familie in Deutschland anrufe, erzähle ich ihnen niemals von den Bildern, die ich jeden Tag ertragen muss. Immer wieder verspreche ich ihnen, dass ich schon bald nach Hause komme. Doch jetzt sind schon zwei Monate vergangen.
Man sollte immer alles schätzen und dankbar sein für das, was man besitzt. Denn man sollte immer daran denken, dass es jemanden gibt, dem es schlechter geht.
Morgen beginnt ein neuer Tag, und ich bin auf ihn vorbereitet als Ärztin ohne Grenzen.

Lina Kohestani (18 Jahre)
 

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