Manfred Schwab - Gräfenberger Weihnachtslegende

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 Zum Abschluss des Weihnachtsfestes hier eine besondere Weihnachtsklegende von Manfred Schwab

Gräfenberger Weihnachtslegende
von Manfred Schwab

Lange vor unserer Zeit lebte in Gräfenberg eine Kirchendienerin namens Miesbacher. Eine kleine zähe Person, stelle ich mir vor, die mehr für Gotteslohn (heute heißt das wohl Ein-Euro-Job) ihren Mesnerdienst versah. Am Tag vor Weihnachten anno dazumal hatte sie noch Große Wäsche gemacht, denn in den zwölf Rauhnächten zwischen Heiligabend und Dreikönig durfte man keinesfalls waschen. So viel Aberglaube von Alters her musste  sein, auch für eine christliche Mesnerin. Die bösen Geister hätten das sonst sehr übel genommen, und das Unglück und die Not waren so schon groß genug.

Obwohl erschöpft vom harten Tagwerk, wälzte sich die Miesbacherin in dieser Nacht noch lange schlaflos auf dem klammen Strohbett hin und her. Sorgenvoll  lauschte sie auf  den unruhigen, rasselnden, von Hustenausbrüchen zerrissenen Atem der Kinder. Eng aneinander gekuschelt  wärmten sie sich gegenseitig. Sie würde ihnen auch zu diesem Weihnachtsfest  keine Winterschuhe kaufen können, so wenig wie warme Mäntel.

Fahl-helles Licht zwängte sich durch das Kammerfenster herein, als die Mesnerin hoch schrak aus ihrem Halbschlaf. Ach, dämmert draußen schon das Morgengrauen, dachte sie. Ich muss hinüber in die Kirche und den Ofen anschüren im Herrschaftsstand, damit es der gnädige Herr Landpfleger und seine Familie schön warm haben beim Weihnachtsgottesdienst.  Die Kälte biss ihr in die Waden, während sie sich steifgliedrig aus den Laken schälte, die grauen Wollstrümpfe hoch rollte und in die linnenen Röcke stieg. Darüber stülpte sie das schwarze Überkleid. Sie band sich Schürze und Kopftuch um und huckelte den  Holzkorb, oben drauf ein Reisigbündel. Die Laterne in der Hand, stapfte sie vornüber gebeugt die Dachbodentreppe hinunter. An einer schweren Eichentür schob sie den quietschenden schmiedeeisernen Riegel zurück. Ein eisiger Hauch schlug ihr entgegen, während sie über die ächzenden Dielen des überdachten hölzernen Übergangs schlurfte, der das Neue Schloss, das Großhaus, direkt mit der Herrschaftsloge in der Kirche verband.

Im Herrenstand, durch eine Trennwand von der Empore abgeteilt, kniete die Mesnerin nieder vor dem kleinen Eisenofen. Flink waren Reisig und Holzscheite in das Feuerloch geschlichtet und pustend das Feuer entfacht. Die Miesbacherin versuchte sich ein wenig die kältesteifen Finger zu wärmen. Dann setzte sie sich in den bequemen Polstersessel des Landpflegers und blätterte in dessen Schweinsleder-gebundenem, mit kostbarem Goldprägedruck verzierten Gesangbuch.  Lesen konnte sie freilich nicht, aber die Lieder kannte sie fast alle auswendig.

Während sie auf den Sechs-Uhr-Glockenschlag wartete, um die Kirchenglocken zur Morgenandacht zu läuten, musste sie wohl einen Moment eingenickt sein. Leise Schritte und eine engelssüße Stimme weckten sie. „Es ist ein Ros’ entsprungen...“ hallte es durch den leeren, düsteren Kirchenraum. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah gerade noch eine geisterhafte Erscheinung mit golden schimmernden Flügeln durch die Tür der Loge hinaus schweben. In diesem Moment schlug die Stundenglocke zu ihrer großen Verwunderung  zwölf Mal.
Die Mesnerin sprang erschrocken auf und stieß dabei ihre Laterne um. Flammen züngelten sogleich an den Sesselbeinen hoch. Mit dem Ruf „Feuer! Feuerio!“ stürzte sie hinaus in die Mitternacht. Hell leuchteten die schneebedeckten Dächer im Mondlicht, was sie wohl für die Morgendämmerung gehalten hatte. Gleich darauf hörte sie das Feuersignal oben vom Wächter auf dem Michelsberg-Turm. Die Nachbarn eilten mit Wassereimern und Reisigbesen herbei. Rasch waren die Flammen gelöscht. Aber der Holzboden des Herrensitzes war angekohlt und brüchig. Später, als er wieder instand gesetzt wurde, stellten die Handwerker mit Entsetzen fest, dass seit langem Wasser durch die Außenwand der Kirche in den Logenboden gesickert war. Die Trockenfäule hatte die tragenden Balken schon so zerfressen, dass der Herrenstand bei stärkerer Belastung mit den gewichtigen Nürnberger Herrschaften unweigerlich in die Tiefe gestürzt wäre.

Der Herr Landpfleger war natürlich höchst erzürnt, dass gerade an Weihnachten seine Kirchen-Loge unbenutzbar geworden war. Er machte der Mesnerin schwere Vorhaltungen wegen ihrer Unachtsamkeit. Als er aber später erfuhr, in welch bedrohlichem Zustand sich das tragende Gebälk seines Herrenstands befunden und dass die Mesnerin mit ihrer himmlischen Geistererscheinung ihm und seiner Familie möglicherweise das Leben gerettet hatte, kamen die Mesnerkinder doch noch zu ihrem lange entbehrten festen Schuhwerk. Allerdings erst spät im nächsten Sommer, als sie längst wieder wie gewohnt und mit großem Vergnügen barfuß liefen.

An jenem Weihnachtsfest jedenfalls saß der Landpfleger samt Familie, Gefolge und prächtig gewandeten Nürnberger Patrizier-Freunden ganz volksnah unten in der Kirche, mitten unter den gewöhnlichen Christenmenschen. Freilich ganz vorn auf der ersten Bank, in warmen Pelz gehüllt und auf seidenen Kissen. Die regierende Obrigkeit und das arbeitende Volk waren sich in diesen Tagen unerwartet nahe gekommen, beinahe auf Tuchfühlung. So saßen sie gewissermaßen schon einmal Probe auf dem langen Weg zur Gleichheit, Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit aller Menschen. Zu deren Wohlgefallen und zum Frieden auf Erden, wie es der Engel verkündet hatte.