Manuela Wingenfeld - Gedenkstätte Barhof ( Gedicht des Tages)

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Gedenkstätte Barhof, 2013

Wundersamer Ort
Du lebst immer hier
Wir nur ein paar Tage
Alles duftet nach Lavendel
Nach der Hitze
Die Luft kühl und frisch
Spatzen tschilpen
Die hatten wir fast vergessen
Aus den Augen verloren
Vor dem Haus plätschert
Der Steinbrunnen
Auf dem Brunnenrand
Liegt ein Tontäfelchen
Mit Namen
Der Kinder
Die im Juli
Geburtstag hatten
Eins lebte
Von Juli bis Oktober
Eins lebte
Von Juli bis September
Beim dritten,
Maria,
Ist das Datum
Verwischt

Du hast das Täfelchen gemacht
Es ist gut, dass du hier lebst
Wir weinten
Um die ach so kleinen Kinder
Ihr Tod ist lange her
Fast siebzig Jahre
Sie haben diesen Ort nicht wahrgenommen als schön
Ihr Sterben muss qualvoll gewesen sein
Verhungert
Verdorrt ohne Zuwendung
Im öffentlichen Register:
Todesursache „Bronchialkatharrh“
Oder „Herzschwäche“
Man wollte sie nicht gleich ermorden
Damit die Mütter nicht die Kraft zum Arbeiten verloren
Man bedauerte
Die vielen Liter Milch
Die trotzdem der Volksgemeinschaft verloren gingen
Bis zu ihrem Hinscheiden

Welche Menschen haben das getan?
Welche Menschen haben hier gefrühstückt
Und Babys zum Sterben in Empfang genommen?

Der Brunnen plätschert
Und gemahnt
An das Schicksal der wehrlosen Kleinen zu denken

Jeder hat nur dies eine Leben.

Hier an diesem Ort
Geschah das Monströse
Von dem heute
Fast niemand mehr spricht

Hier in diesem Zimmer
Wo mein Kleinkind träumt
Beim ersten Hahnenschrei
Wimmerten vielleicht
Die sterbenden Babys

Nach dem Mittagessen
Stellten die Erwachsenen
Frauen!
Fest, ob eins tot war
Sie blickten darauf ohne Reue
Wickelten es ein
Und brachten es weg

Sie meinten
Niemand würde jemals mehr
Seiner gedenken

Ganz normale Frauen im Krieg

Die Babys waren von
Ostarbeiterinnen
Die mit ihnen auf dem Arm
Nicht hätten schuften können
Die Kinder hätten sowieso keine Chance gehabt, sagte man.

Du hast geschrieben
Dich mit dem Los der Babys befasst
Mit ihren kleinen Seelen
Ein Glück!

Wenn alles gleichgültig wird
Wir die Erinnerung
Nicht mehr bewahren
Wird die Welt immer unmenschlicher

Du kämpfst dagegen an.

(Gewinnertext bei den Berner Bücherwochen 2013)