Marie-Christin Hegemann - Zwischen Pflicht und Traum (JUgendliche melden sich zu Wort am 31.12.)
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Zwischen Pflicht und Traum
Es war einmal eine Prinzessin, die hatte alles, was sie sich nur wünschen konnte. Sie hauste in einem riesigen Palast, hatte Tausende Ballkleider und war sogar einem reichen Prinzen versprochen. Doch die Prinzessin Josephine war sehr unglücklich. Sie hasste dieses ganze Prinzessinnen-Getue mit der Ettikette und den langweiligen Bällen und Empfän-gen. Der Teenager wollte auf Rockkonzerte gehen, ausgefranste Jeans tragen und sich selbst den
Ehemann aussuchen.
Zur gleichen Zeit gab es weit weg den Prinzen E-rich, Josephines zukünftigen Gemahl. Er hatte das-selbe Problem. Er wollte sich selbst seine Prinzessin aussuchen und nicht diese Wildfremde heiraten. Erich wollte auch lieber mit seinen Kumpels feiern, als die königlichen Pflichten erlernen.
Eines Morgens wachte Josephine auf und hörte schon am Vogelzwitschern, dass an diesem Tag etwas Besonderes passieren würde. Sie stand auf und zog eines der Ballkleider mit den riesigen Reif-röcken an. Wie jeden Tag! Wie sie diese Kleider verabscheute! Viel lieber trug sie verwaschene Röh-renjeans oder Miniröcke. Wenn schon Kleider, dann kurze oder wenigstens nicht so bauschige mit Schleifen und Rüschen überall. Sie kam sich vor wie ein Geschenk und heute sogar wie eines in Rosa. Sie setzte sich auf den Schminkhocker, und die Hofdamen fingen an, sie zu frsieren und zu schmin-ken. Jeden Morgen fast eine Stunde, damit auch alles haargenau passte: der Schmuck zu der Un-terwäsche und die Schminke zu den Schuhen. Jo-sephine hasste diesen Drasch. Sie war ein ganz normales Mädchen wie jedes andere auch.
Etwas später trottete die Prinzessin zum Frühstück. „Josephine, geh nicht wie eine Magd!“ Die Königin saß bereits am Frühstückstisch. Josephine setzte sich anmutig neben sie. „Ja, Mutter.“ Der Früh-stückstisch war übersät mit Köstlichkeiten, was die Prinzessin nicht verstand. Denn sie und die Königin frühstückten die meisten Sachen sowieso nicht. Ein Diener trat an sie heran und sagte: „Hier ist ein Brief an Eure königliche Hoheit von Prinz Erich.“ Josephine zitterten die Hände. Da war der Brief, der ihr alle Möglichkeiten nahm, sie selbst zu sein. Der Prinz war bestimmt wie alle Prinzen, spießig, lang-weilig und prinzig. Und nun kam einer seiner Diener am nächsten Tag zum Schloss. Die Prinzessin stand auf und eilte, nein, rannte in ihre Gemächer. Sie warf sich heulend aufs Bett, den Brief in den Hän-den. Sie starrte ihn an. Dieser Abend war also ihr letzter, an dem sie noch sie selbst sein konnte, ihre letzte Möglichkeit, noch einmal aus dem goldenen Käfig zu fliegen, bevor sich die Käfigtür für immer schloss. Josephine ließ nach ihrer Hofdame rufen, ihrer einzigen Freundin am Hofe. Gloria verstand sie und hielt zu ihr. Josephine beschloss, den letz-ten freien Abend noch einmal so richtig zu genie-ßen, und so zog sie sich eine Hotpants und ein Top an, um sich für die Disco fertig zu machen. Gloria war natürlich auch dabei, und so zogen die beiden Mädchen los.
Erich wiederum saß mit seinem Hofberichterstatter Gustav in der Kutsche auf dem Weg zur Prinzessin. Als Diener getarnt, saß er ihm gegenüber. Schon in einer Woche sollte er eine Wildfremde heiraten. Schon am nächsten Tag wurden sie am Schloss er-wartet. Also übernachteten sie in einem Vorort der Stadt in einem Hotel. Und auch Erich wollte seine letzte Nacht als Single gebührend feiern, noch ein-mal wollte er selbst sein. Und so machten sich der Prinz und die Prinzessin unabhängig voneinander auf den Weg, ihren letzten Abend als Single zu ge-nießen.
Josephine und Gloria tanzten wie zwei einfache junge Mädchen auf der Tanzfläche. Keiner hätte gedacht, dass das eine Mädchen eine Prinzessin war. Auf einmal stand ein Junge hinter ihr und for-derte sie zum Tanzen auf. Josephine wusste zwar nur, dass der junge Mann Gustav hieß, doch sie tanzte noch den ganzen Abend mit ihm. Sie wünschte sich, dass der Prinz wie Gustav war. Wenn nur Gustav der Prinz wäre!
Erich hatte sich auch in ein Mädchen verliebt. Es hieß Gloria und war wunderschön und klug. Wie sehr erhoffte er sich, dass die Prinzessin wie Gloria war! Es war im siebten Himmel, als sich ihre Lippen zum Kuss trafen. Nicht einen Moment dachte er mehr daran, dass er morgen die Prinzessin treffen würde. Monarch zu sein ist so was von einem Beziehungskiller! Niemals würde er es Gloria sagen. Niemals würde sie erfahren, dass er ein Prinz war! Der Prinzessin ging es genauso. Niemals würde sie diesem Gustav sagen, dass sie nicht Gloria hieß, sondern Josephine, und dass sie eine Prinzessin war! Der Abschied war nun nicht mehr hinauszuzögern, und ohne es anzusprechen, wussten beide Paare, dass sie sich nie wiedersehen würden.
Der Tag war gekommen. Die Prinzessin stand am Fenster und wartete. Eine Kutsche kam. Das wird der Hofberichterstatter sein, dachte sie. Die Kutschentür wurde geöffnet, und heraus trat ein fein gekleideter Herr, der Hofberichterstatter, und noch jemand, ein Diener des Prinzen. Der Diener hob den Kopf zum Fenster, und Josephine sah sein Gesicht. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Dieser Mann war Gustav, der Mann aus der Disco, der, mit dem sie rumgeknutscht hatte. Wenn der Prinz das erfuhr, überlegte sie, würde er sie nie heiraten, und alle würden sie für ein Miststück halten. Sie rief sogleich nach Gloria. Sie weinte. Wie sollte sie den Prinzen heiraten, wenn sie in seinen Diener verliebt war? Gloria gab einer der Hofdamen den Befehl, zu den Gästen zu gehen und ihnen zu sagen, dass die Prinzessin sich nicht gut fühle. Sie sei noch nicht in der Lage, sie zu empfangen. Die Hofdame ging und teilte den Gästen dies mit. Sie sagte auch, dass gleich die Hofdame Gloria kommen werde, um die werten Herren in ihre Gemächer zu führen.
Der Prinz war geschockt. ‚Gloria? Hatte diese Hof-dame gerade Gloria gesagt? Was ist, wenn diese Gloria die aus der Disco ist? Dann hat sie der Prin-zessin bestimmt von Gustav erzählt.’ Der Prinz wusste nicht weiter. Wie sollte er die Prinzessin hei-raten, wenn er in ihre Hofdame verliebt war? Gloria betrat den Saal. Der Prinz war erleichtert und ge-schockt zugleich. Diese Gloria war nicht seine Glo-ria. Sie war das Mädchen, das mit seiner Gloria in der Disco gewesen war.
Es war Zeit fürs Abendessen. Die Prinzessin konnte es nicht länger hinauszögern. Sie musste diesem Gustav die Wahrheit sagen. Erich saß am Tisch. Nun war es so weit. Nun würde er seine baldige Braut sehen, auch wenn er nicht wusste, wie er ihr erklären sollte, dass er sich als Diener getarnt hat-te. Die Flügeltür wurde geöffnet, da war sie, Prin-zessin Josephine. Sie hob den Blick, und der Prinz traute seinen Augen nicht. Die Prinzessin war das Mädchen aus der Disco. Sie war das Mädchen, in das er sich verliebt hatte, das er geküsst hatte.
Die Prinzessin starrte auf den Boden, als sie den Saal betrat, doch sie musste sich dem Blick des Dieners stellen. Sie hob den Kopf, und er sah sie an mit seinen wunderschönen Augen. Das war zu viel. Sie konnte nichts sagen, drehte sich um und rannte davon. Sie musste raus und saß schließlich im Park auf einer Bank. Erich rannte ihr hinterher. Nun, da er wusste, dass alles gut werden konnte, musste er ihr sagen, dass er der Prinz war. Und so ging er auf sie zu: „Prinzessin, wenn ich mich Ihnen vorstellen darf? Ich bin Prinz Erich.“ Josephine starrte ihn an. Wollte dieser Diener sich über sie lustig machen? Der Prinz blickte in ihre Augen, die Tränen quollen heraus. Mit festem Blick sagte er: „Ich wollte keine Fremde heiraten. Deshalb tarnte ich mich als Die-ner, um Euch kennenzulernen. Gestern benutzte ich den Namen meines Hofberichterstatters. Es tut mir leid!“ Die Prinzessin konnte es nicht fassen. Sollte sich ihr Traum bewahrheiten, der Traum die Pflicht erfüllen? Josephine sprang auf, und sie küssten sich. Es musste Schicksal gewesen sein, dass sie sich getroffen hatten, fern von aller Ettikette.
Erich und Josephine heirateten zweimal: Das erste Mal, wie es sich als Prinz und Prinzessin gehört, und das zweite Mal, wie es für Erich und Josephine rich-tig war.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Vielleicht sitzen sie gerade jetzt in ih-rem modernen Appartement in New York oder tan-zen in den Discos von Rio.
Marie-Christin Hegemann ( 14 Jahre )