Matthis J. Borda - Das Eis zwischen dem Universum und hier (Anthologieteilnehmer 3. Vechtaer Jugendlieraturpreis)

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Matthis J. Borda (Lünen, 20 J.)
Das Eis zwischen dem Universum und hier

Ich konnte mich nicht erinnern, wie es war, nicht hier zu sein. Er war ein Zuhause. Er war ein Raumschiff. Er war ein riesiger Würfel aus Eis, und obwohl er unser Gefängnis war, war er letztendlich doch unser Freund.
Meine Schwester Yanna und ich nannten ihn Zero. Auch wenn sie mit ihm sprach und ihn durch die Weiten steuern durfte, so wusste ich, sie wollte zurück zur Erde. Sie wollte mehr sehen als das kalte Blau, das wir sahen, wenn wir durch das Eis hinaus in das Universum starrten. Irgendwo dort hatte sie ihr Lächeln verloren.
Blau und Weiß waren die Farben, an denen wir uns schon seit Jahren satt gesehen hatten, auch, wenn ich niemals ihre Schönheit leugnen konnte.
All die Bücher, die ich las, weckten in mir die Sehnsucht nach der Erde. Nun sollte unser Wunsch wahr werden, denn hinter dem Mars stach die Sonne hervor. „Yanna! Siehst du das?“
„Natürlich, Nhut. Ich fliege darauf zu“, antwortete sie spie-lerisch kühl.

„Ich rede mit ihm. Wenn er nicht mitmacht, ziehen wir un-seren Plan durch.“ Sie griff zur Eiswand.
Mir gefiel es nicht, wenn sie mit ihm sprach, und auch nicht, wie sie es tat. Ich glaube, sie sah in ihm den Vater, den wir nie hatten.
„Nur ein paar Tage!“, flehte sie ihn an.
„Wir können doch nicht für immer hierbleiben.“ Plötzlich verstummte sie.
„Was hat er gesagt?“, fragte ich.
Wütend hämmerte ich gegen das Eis. „Was hast du meiner Schwester erzählt?“
„Er hat es verboten. Uns die Erde nur anzusehen, wäre schon zu viel, aber er würde es erlauben.“
Ich hasste es, wenn er das tat. „Er würde es uns erlauben, wie nett von ihm. Und wie nett, dass er uns hier gefangen hält!“
„Er sagt, unsere Eltern wollen uns von hier fernhalten.“ Sie begann zu weinen. „Wenn Mama und Papa es nicht wollen, dann will ich auch nicht!“
Ich nahm sie in den Arm und sie löste die Verbindung.
„Sie sind nicht hier. Wir müssen zur Erde, sonst werden wir nie verstehen, wieso sie uns im Stich gelassen haben.“
„Sie haben uns nicht …“, protestierte Yanna.
„Wir sind allein, oder nicht?“ Ich strich ihr dunkles Haar zur Seite und fügte hinzu: „Yanna, wir haben sie nie gesehen. Ich weiß, du wünschst dir, sie würden wiederkommen. Du liebst sie. Aber du darfst trotzdem sauer auf sie sein. Kinder sind ständig sauer auf ihre Eltern.“
„Nur weil das in deinen Büchern steht, muss es nicht auch so sein“, antwortete sie.
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Aber in Ordnung, legen wir los.“

Yanna flog am Mars vorbei auf die Erde zu. „Jetzt!“, flüsterte ich ihr ins Ohr und sie schoss mit voller Geschwin¬digkeit zur Sonne hin. Wenn er nicht wie Ikarus enden wollte, musste er einknicken.
„Er versucht selbst zu steuern, aber ich kann ihn daran hin-dern!“, rief Yanna angestrengt.
„Sehr gut! Bald wird er aufgeben!“ Insgeheim war ich mir aber unsicher. Konnte er überhaupt schmelzen?
Es wurde deutlich wärmer. Ich hielt meine Augen geschlos-sen, um nicht geblendet zu werden. Yanna tat dasselbe.
„Lass mich in Ruhe!“, schrie sie.
„Hört sofort auf! Ihr müsst auf mich hören!“ Die dunkle Stimme kam aus meinem Kopf.
„Müssen wir nicht! Du bist nicht unser Vater!“, schrie ich. Die Wut kochte in mir.
Die Wärme verwandelte sich in Hitze und das Lodern der Flammen breitete sich um uns aus. Vermutlich aus Angst kniff ich die Augen so feste zusammen, dass mein Gesicht schmerzte. Ein lautes Knacken zog sich durch die Wände. Auf einmal wechselte unser Kurs.
„Ich habe die Kontrolle verloren!“ Yanna musste schreien, denn das Knistern der Flammen dröhnte lauter als alles, was wir bisher gehört hatten.
Druck schlug auf meine Ohren und ein Zischen ertönte hin-ter dem Eis. Ich öffnete meine Lider und das Erste, was ich sah, war eine riesige Masse an Blau.
Wir schlugen ins Meer ein und für lange Zeit war es stock-finster.
Plötzlich hörten wir Zero: „Eure Eltern haben euch geliebt, obwohl Kinder verboten waren. Etliche Jahre habe ich er-folglos nach einem neuen Zuhause für euch gesucht. Ir-gendwann hoffte ich, ich könnte dieses Zuhause sein.“
So kannte ich ihn nicht. Noch nie hatte er einen Fehler zuge-geben oder Schwäche gezeigt. Mir tat auf einmal leid, was ich gesagt hatte.
„Nhut, du hast es verdrängt, aber du hast mich nicht immer gehasst. Es ist meine Schuld, ich konnte mit deinem Wunsch, zur Erde zurückzukehren, nicht umgehen. Ich hof-fe, dass ihr findet, was ihr sucht. Die Erde in eurer Vorstel-lung ist schö¬ner als die Realität. Wenn ihr geht, seid bitte nicht enttäuscht.“
Es rauschte und fiepte. Dann war es totenstill.
Wir tauchten auf und noch am selben Tag strandeten wir. Zero hatte nichts mehr gesagt, auf nichts mehr geantwortet und fliegen konnte er auch nicht.
Mitten im Raum war ein roter Knopf erschienen und ich wusste genau, was passieren würde, wenn ich ihn drückte.
Ich sehnte mich danach, das warme Gelb des Sandes zu se-hen und ihn zwischen meinen Fingern rieseln zu lassen. Ich wollte die Dünen herunterrutschen und ich wollte ein Bad im Meer wagen. Ich musste an Zeros Worte denken. Wollte ich wirklich meine Illusion verlieren?
Yanna saß zusammengekauert auf dem Boden und weinte.
Ich ging zu ihr.
„Er wollte unser Zuhause sein und wir haben ihm das ge-nommen“, sagte sie heiser.
Mir fiel nichts ein, was ich darauf erwidern sollte. Wenn wir hier nicht herausgingen, wäre sein Tod völlig zwecklos ge-wesen. Und dazu wäre es meine Schuld.
Entschlossen drückte ich den roten Knopf. Links von mir löste sich die Wand von der Decke und fiel nach außen. Sonnenlicht strömte herein. Geblendet wagte ich es, ge-meinsam mit Yanna, zum ersten Mal hinaus.

Der Sand war kohlenschwarz und brannte unter den Füßen. Das Meer war grau und über dem Horizont blieb es grau. Keine einzige Wolke am Himmel. Ich vermisste mein Blau. Kalter Wind riss den schwarzen Sand mit sich und peitschte nach uns. Verzweifelt kletterte ich die Düne hinauf.
Eine farblos-graue Masse, durchzogen von toten Bäumen, erstreckt sich vor mir bis zum matten Horizont. Seit zwei Stunden sitze ich hier innerlich verloren und unfähig, je wieder zu träumen. Mutter, Vater, Zero. Ich wollte ja nicht auf sie hören. Alle meine Träume sind mit einem Mal zer-platzt und ich selbst wollte es unbedingt. Jetzt spüre ich nichts mehr. Meine Enttäuschung ist völliger Taubheit ge-wichen. Mein Feuer erloschen, so gefühllos wie Eis.
„Komm, wir gehen zurück.“ Yannas Hand liegt auf meiner Schulter. Sie lächelt mich an. Sie hat es wieder. Eine kleine Flamme. Ein Anfang.




 

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