Tabea Waldhecker - Ich in meiner Welt von morgen (3. Platz Vechtaer Jugendliteraturpreis)

Hördatei: 

Tabea Waldhecker (Halle, 20 J.)
Ich in meiner Welt von morgen

Zu viert sitzen wir in dem tiefgrünen Garten der Klinik. Nach einem Nervenzusammenbruch vor drei Monaten schickten mich meine Eltern hierhin. Nun werde ich in zwei Wochen meine Therapie beenden.
„Schön, dass wir hier zusammensitzen. Ich möchte, dass ihr euch heute überlegt, wie ihr euer Leben gestalten möchtet. Wie möchtet ihr euch morgen verändern und was wollt ihr erreichen?“, fragte unser Betreuer Marco. „Am Ende lässt jeder einen Luftballon steigen, der einen Wunsch oder eine Nachricht mit sich trägt. Nachdem er viele Kilometer gereist ist, wird ihn jemand mit eurer Nachricht finden.“
Obwohl ich unschlüssig dreinschaute, freute ich mich sehr. Schon seitdem ich ein Kind war, wollte ich mal so etwas machen.
„Also fangen wir an“, sagte Marco und blickte in die Runde. Er wartete, bis jemand von uns die Stille durchbrach.
„Morgen möchte ich frei und unbekümmert sein, wie früher als Kind. Inzwischen esse ich regelmäßig und gut, doch ne-ben meinen festen Mahlzeiten erlaube ich mir keine Süßig-keiten. Morgen möchte ich nach dem Abendessen etwas Schokolade probieren.“ Unser Betreuer nickte verständnis-voll. Kenny hatte schon seit fast einem Jahr keine Süßigkei-ten mehr angefasst. Vor drei Jahren fing sie an, ihr Essver-halten zu dokumentieren und ihre Kalorien zu zählen. Im-mer stärker fängt sie an, ihr Essen in gesund und ungesund, in gut und böse zu unterteilen. Dann wurde alles Essen böse und sie brach es nach den Mahlzeiten mit ihren Eltern wie-der aus. Als Kenny auffällig schnell an Gewicht verlor, kam sie vor einem halben Jahr in diese Klinik.
„Morgen möchte ich mutig sein und zu mir selbst stehen. Morgen möchte ich in einen Spiegel sehen.“ Nils Reim brachte mich zum Schmunzeln. „Hier wird mir jeden Tag mein Zopf geflochten. Wenn ich dabei zuschaue, kann ich mir meine Haare vielleicht irgendwann selbst flechten.“ Als Nils hierherkam, hatte er noch kurze Haare, ließ sie dann aber wachsen. Er wollte sich von seinem Selbstbild lösen. Nils mag sich nicht im Spiegel anschauen. Er hatte mir er-klärt, dass er den Drang hatte, sich bei jeder Gelegenheit in seinen Reflexionen zu beobachten. Obwohl es ihm sehr un-angenehm war, mit sich selbst Blickkontakt zu halten, konn-te er nicht wegschauen. Anfangs fühlte er sich dabei leer, dann entwickelte sich daraus Selbsthass, der immer stärker wurde. Eines Tages konnte er seinem eigenen Blick nicht mehr standhalten und zerstörte den Spiegel. Seine Eltern fanden ihn in seinem Zimmer mit blutigen Händen und Füßen. Nils war jetzt erst einen Monat bei uns.
„Das ist ein großer Schritt, Nils. Schön, dass du dir ein lang-fristiges Ziel gesetzt hast“, bestätigte ihn Marco.
Marco blickte zu mir. „Möchtest du?“, fragte er mich ruhig. Ich nickte. Ich hatte auch Probleme mit meiner Identität und meinem Aussehen. Meine Haare sind zu dünn und mein Gesicht zu speckig, wie bei einem Baby. Ich empfinde mein Aussehen als ungesund und abstoßend. Bei Fotos und Vi-deos von mir werde ich panisch. Manchmal möchte ich mir am liebsten die Haut vom Körper reißen. „In meiner Welt von morgen bin ich glücklich. Ich möchte ein Foto mit euch machen als Erinnerung. Denn ich würde mich noch viel mehr hassen, keinen dieser gemeinsamen Momente einge-fangen zu haben. Das ist mir schon so oft passiert.“
Es herrschte Stille und Marco schaute uns nacheinander an. Da wir hier gelernt hatten, uns nicht klein zu machen, ver-suchten wir, seinem Blick standzuhalten. Trotzdem stieg Panik in mir auf. Wieso sagt er denn nichts? Bestimmt habe ich etwas Falsches gesagt.
Erst nach seinem kurzen Lächeln hörte ich seine Stimme wieder. „All eure Ziele haben einen so großen Wert. Also wieso wartet ihr auf morgen? Morgen werdet ihr nicht an-ders sein. Morgen werdet ihr auch nicht besser sein. Denn das ist das, worauf ihr die ganze Zeit wartet. Doch Verände-rungen passieren nur durch Handlungen, die ihr heute be-ginnt.“
Mit diesem Satz stellte er eine Kiste auf den Tisch. Ich beug-te mich vor und sah in ihr jede Menge verschiedener Gegen-stände. Marco reichte Kenny eine Schüssel voller Süßigkei-ten, Nils legte er einen Spiegel hin und mir gab er eine alte Kamera.
„Jedes eurer Ziele und Wünsche im Leben ist so viel wert, dass ihr sie niemals warten lassen dürft“, erklärte uns Marco.
Jeder von uns schrieb etwas auf seine Karte und band diese an einen Luftballon. Mit den Ballons in unseren Händen stellten wir uns zusammen hin und Marco schoss mit der Kamera ein Bild von mir mit meinen Freunden. Dann ließen wir die Ballons los. Mein Luftballon stieg nach oben an mir vorbei und ich sah ihm nach. Noch eine ganze Weile stand ich so da, bis meine Karte nur noch ein heller Punkt war. Wer auch immer diese Karte findet: „Ganz bestimmt fängt irgendwann auch endlich dein Morgen an.“