Bäumer, Ursel

Ursel Bäumer,
geb. in Münster, Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Lehrtätigkeit in Bielefeld und Bremen, lebt als freie Autorin in Bremen.

 

 

 


 

 

Leseausschnitt:
Paula Modersohn-Becker (1876-1907)

 

 

 

Es gibt keinen Schleier mehr zwischen mir und Paris

 

 

 

 

Um ehrlich zu sein, ich bin dir gefolgt.

Irgendwann hab ich die Koffer gepackt, mich Hals über Kopf aus dem Staub gemacht einzig mit dem Wunsch, nach Paris zu gehen, der Stadt, von der ich glaube, dass ich dich dort finden werde.

Ja, ich bin ohne Plan und Ziel hingefahren, in der unbegreiflichen Hoffnung, du könntest mir überraschend begegnen oder plötzlich aus irgendeinem Hauseingang kommen.

Als wärst du selbstverständlich nicht gestorben.

Eine merkwürdige Neugierde, auch wenn ich innerlich darüber lächele, gewissermaßen darüber stehe. Aber ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass es ein Zufall war.

Zuerst ist es mir gar nicht aufgefallen. Eher eine beunruhigte Trägheit.

Vor deinen Bildern in der Kunsthalle und im Museum der Böttcherstraße.

In Worpswede.

(Worpswede, Worpswede, Worpswede! Versunkene Glocke-Stimmung! Birken, Birken, Kiefern und alte Weiden. Schönes braunes Moor, köstliches Braun! Die Kanäle mit den schwarzen Spiegelungen, asphaltschwarz. Die Hamme mit ihren dunklen Segeln, es ist ein Wunderland, ein Götterland.)

Du siehst, ich kenne deine Tagebücher und Briefe.

 

Aber dann habe ich es zum ersten Mal bei der Begegnung mit einer Poetin gespürt. Sie hat Gedichte über deine Bilder geschrieben. Wir haben über dich gesprochen.

Paula.

Wie jemand, der an eine endgültig verschlossene Tür klopft und dahinter plötzlich Geräusche und Stimmen hört.

Paula.

Und je mehr ich mir aus Briefen und Tagebüchern, aus Skizzen, Fotografien und Leinwänden ein Bild von dir zusammengesetzt habe, desto größer wurde der Wunsch, den Koffer zu packen und dich in Paris zu finden. Als gäbe es eine geheime Vereinbarung zwischen uns.

Als wolltest du etwas von mir.

Das Bild eines Menschen, der selbst nicht weiß, was später in allen Kunstbüchern steht, der am Abend eines neuen Jahrhunderts beschließt, sein Leben allein in die Hand zu nehmen.

(Ich liebe die Kunst. Ich diene ihr auf den Knien und sie muss die Meine werden.)

Wie du da stehst im Spiegel. Vor Häuserwänden und Wolkenhimmel, vor hellen Streifen im Hintergrund, dein dunkles Gesicht am Fenster, das erwartungsvoll in die Zukunft schaut, trotz des steifen Kragens und der silbernen Schleife, die dir kaum Luft zum Atmen lassen.

Das Kinn gereckt, dein Blick nach oben, so hoch, so hoch, als wärst du dir sicher.

Den entscheidenden Schritt aus der Enge zu tun, die Schleife zu lösen, die den Hals abschnürt.

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