Fluchtzeiten

Autor: 

Fritz Reutemann
Fluchtzeiten
Das Ende der Totlachgesellschaft
ISBN 3-936389-17-9
10,10 Euro

 

Fritz Reutemann

Fluchtzeiten

Die Ereignisse des 11. Septembers und die nachfolgenden Maßnahmen in der Innen- und Außenpolitik der führenden Industrienationen verlangten nach Stellungnahmen auch von Seiten einer engagierten Lyrik.

Das Ende der Totlachgesellschaft - der Untertitel wurde mit einem Fragezeichen versehen, denn zum Totlachen gibt es immer noch zu viel in einer Weltgesellschaft, die anscheinend außer an einer Profitmaximierung an nicht viel anderes mehr denken kann.

Inhalt:
Reutemann, Fritz: Vorwort
ottomania
manhattan
Wieland, Hans Peter Die Sieger haben schon verloren
Kasumu, Rita Stecken in meiner Haut
Heins, Rüdiger 11. September - Terror in Chile
Lutz, Werner Die letzte Meldung - Sterbehilfe
Die letzte Meldung - New York
Die letzte Meldung - Kriegseintritt
Zakikhani, Sarvin Zwillingsschwestern
ESTRO Ausrede
Drohung
Kapp, Peter In der Stadt
Nachtgeweihe
Väterlich
Bühner, Jürgen Abdruck
Kuhle
Kallies, Grit Von gestern
Glaßer, Marianne Septembertag
Überflüge
Keller-Strittmatter, Lili-Lioba Soldaten
Flüchtlinge
Rohrmoser, Waltraud Gewalt
Im Albtraum
Claudia Scherer global
der soldat
Niemz, Konstanze Noch dümmer
Kretschmann, Felicitas HörSturz
Wahlfang
11. September 2001
Mala, Matthias Der Fall der Türme
Und wieder haben wir uns keine Wahl gelassen
Er kommt und kriegt
Raupach, Verena Dieser einmalige Tag
Assassini
Die Töchter des Gesangs
Rüger, Thomas Visionen
Schwab, Manfred Gesang auf dem hohen Ast
Das Spiel zum Krieg
Schon, Jenny Afghanistan
Freiheit
Der Schrei der Steine
Gespräch
Fienholf, Wolfgang G. Affentheater
Chronologie
Nach dem 11. September
Eichner, Cornelia Schweinestall
der verfahrene karren
Brunn, Clemens Gärten rot, Gärten weiß
Köpfe fallen manchmal so langsam
Betrachtung
Brons, Thomas 1. fassung
Stauffer, Robert Korrosion, Twin Towers
Dittrich, Raymond Der Fremde
Inmitten
BeBe Gläsern
Zu viele Menschen
Wir sterben
Nichts ist mehr
Karla Reimert Macht endlich Mut
Neujahr
Ulrike Kleinert Ground Zero
Holger Uske Das Licht des 15. Novemebr
Michael Georg Bregel An allem Anfang
Die Genitalien
Verena Blecher bombardement
Kalter Wind
Herbst
Maria Bernhardt Zwischenräume
Saza Schröder Eins Zwei Drei Viele
Harald Weil Im Blechkleid
Im Brauseltopf
Aus dem verwundeten Wort
hippe habasch mutter kreuzt
angriff der zivilisation
fallbeispiel
Jürgen Herwig Vermittlungsversuch
Heimatfront
Kanzlerwort
Alempijevic, Milutin Die Welt
Schwarzkopf, Ansgar Das Gewissen
Schnetz, Dr. Wolf Peter Kurzzeitgesellschaft
Feindbild
Real-Zeit
Schablewski, Frank Mauersegler
Nowak, Karin Den drei Schwestern
Frauen
Seiler, Hellmut Wilde Rufe
Aus den Fugen
Rudimenta mistica
Ernst, Jürgen-Thomas War Sommer
Woechele, Rainer Amerikanerhören
Amerikanerzorn
Bratislav, Rakic Wer waren wir
Biographie Miroslav Spousta

Rezension:

Eins der mir zugeschickten Bücher ist "wilde gedichte" von Fritz Reutemann, der mit diesem Lyrikband die Reihe "Bibliothek engagierter Lyrik" im Geest-Verlag eröffnet.
"Lyrik, die aufgreift, zuspitzt, sich einmischt, die Defizite, Fehlentwicklungen aber auch Möglichkeiten unseres gesellschaftlichen Miteinanders auf hohem literarischen Niveau mit unterschiedlichen formalen und inhaltlichen Ansätzen thematisiert", ist auf dem Buchrücken zu lesen. Ja, sicher, das ist auf den Punkt getroffen.
Reutemanns Stil erinnert mich an die `Öko- und Friedenslyrik´ der 80er - und das ist nicht herablassend gemeint - denn genau diese Literatur war es, die mich damals mit beeinflußt hat, Anfang der Achtziger, als noch nicht mal Zwanzigjähriger, in der Zeit der Friedensmärsche, der Anti-AKW-Demos, der Häuserbesetzungen... Im Zug der Zeit ist diese Art von Ausdruck (damit meine ich nicht den Häuserkampf und die AKW-Blockaden - obwohl: das auch) ein Bisserl in Vergessenheit geraten, verpönt, an den Rand gedrängt worden durch die banal daherkommenden Saufdichter nicht zuletzt aus der `93 erfundenen social beat-nix-szene.
Und dabei sind die Zeiten wirklich nicht nach bier- und tränennassen selbstbeweih-leidenden Plattitüden - sind sie nie gewesen! Nicht in den 80ern, nicht durch die 90er, und jetzt schon gar nicht Anfang des 3. Jahrtausends. Da ist ein Schriftsteller vom Format Fritz Reutemanns ein Lichtblick - Sozialarbeiter und Schriftsteller steht in der Biografie zu lesen; er selbst versteht sich als `politischer Dichter´.
Manchem schlicht- oder andersdenkenden Menschen mögen seine Aphorismen und Wortspielereien ein bisserl gebetsmühlenartig daherkommen - da zitiere ich Brecht: laßt uns das 1000 mal gesagte immer wieder sagen...

Fritz Reutemann. Wilde Gedichte.
190 Seiten, Paperback. Euro 9,40
ISBN 3-934852-66-1

Christian C. Kruse


Rezension:

Fluchtzeiten.
Anthologie von Fritz Reutemann (2002, Geest-Verlag).
Die polemische Rezension einer Lyrikanthologie zum 11.September von Hartmut Barth-Engelbart für Redaktion Frankfurter Info, 10.Juli 2002:
Fluchtzeiten. Das Ende der Totlachgesellschaft
Dass sich ein Verlag traut, eine Sammlung von teils heftigkritischen Texte zum 11. September (2001 nicht 1973 !) herauszugeben das wäre schon eine Rezension wert. Dass der Geest-Verlag sich traut, einen Band mit ebensolcher Lyrik zu machen, wird beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels als Suizid-Absicht interpretiert, die nur dadurch zu entschärfen sei, dass es Verlag und Herausgeber gelungen ist , in einer Anthologie-GRUPPE 47 AutorINNen zum Thema schreiben zu lassen. Wenn da die jeweiligen Fan-Clubs zulangen, ist der Verlag aus dem Schneider.
Die in der GEEST-VERLAGs-Reihe "bibliothek engagierter lyrik" als Band 3 erschienene Anthologie "FLUCHTZEITEN - Das Ende der Totlachgesellschaft ?" trägt das Fragezeichen zu Recht auf dem Titel. Wir haben noch lange nicht ausgelacht und irgendwann sind wir selber dran. Das Ende der Nachkriegszeit lag bereits an ihrem Anfang. Langsam erreichen die offensichtlichen Kampfhandlungen auch die Heimatfront.
Dass ein Verlag den Stimmen außerhalb der sattsam bekannten Publikationskartelle und LiteraturSupermarktKetten sein Papier leiht, ist eine aufs Schärfste zu begrüßende Ausnahme, die sich -.wenn überhaupt- nur sehr sehr langfristig auch betriebswirtschaftlich rechnet. Damit das nicht allzu lange dauert, beginnt jetzt die Rezension des Buches:
Genug der Einführungskomplimente -man kann Bücher und Verlage auch totloben.
Die Titelseite ist völlig überladen mit Typen in vielfältigster Größe. Hier hat jemand das gesamte Arsenal von 6 bis 42 Punkt ausgereizt. Statt gestalterisch unverwechselbar einen Punkt zu setzen, der die Köpfe vom Bauch her gewinnt oder umgkehrt, wird alles vorne drauf gepackt: Vier Überschriften, zwei ÜberUnterschriften und noch eine Unterunterschrift. Dabei hätte FLUCHTZEITEN und der sich bis auf die Knochen häutende RiesenErdling, dem die sich rostblutend häutenden ZwergErdlinge aus den wärmenden Hautfalten fallen, dieses Bild voller Bilder hätte gereicht, So geht es zwischen den Zeichen unter. Überhaupt hätten die Grafiken von Miroslav Spousta eine großformatige Präsentation verdient. Es hätte dem Buch sehr genützt. Vielleicht bei einer Neuauflage? Eine Rezension ist keine Bildbeschreibung, mahnt die Redaktion. JaJa, schon gut, weiter im Text. Und der fängt mit dem Herausgeber an: Fritz Reutemann schwimmt von seinem wohltuend bis wohlmeinendem den EisenderINNEn gegenüber übervorsichtigen Vorwort in einer dicken Flut von starken Bildern gegen den Strom und kommt dabei gelegentlich so ins STrudeln, dass man manchmal nicht mehr weiß wo oben und unten usw. ist. Kein Wunder und man weiß so und so nicht wofür das mal gut ist. Hanspeter Wieland hat neben einigen bekenntnisoffen harten Aphorismen mutig trotzig Wahrheiten in Reime und manchmal auch weiße Schimmel gezäumt. Und dann hat er seinen ÜberMut gleich etwas mit der Trense auf holprigem Gelände gebremst: "Wenn ein Pentagon nicht mehr steht/ es dann der Welt und Amerika (sic!!) nicht besser geht?/ Frage ! " So als wolle er sich beim dabbelyou (wie Roland Clauspds für das Plakat) für sein Gedicht entschuldigen.
Rita Kasumu schreibt wie ihr Name dicht und rund "Meine Haut/reibt sich auf ... am Katzentisch/in der Kantine/Eiland im Ozean/der Fremdheit.." Mit tieftönenden Wildern und Borten. Ein zweites Gedicht von ihr hätte ich auch noch gelesen. Hans Rüdiger sollte schon mal wissen, dass man auch in dichten Poemen das "das" mal mit doppel- und mal mit einfach 'S' schreibt, ohne gleich in Doppel-Assoziationen zu verfallen, die diese verständnisfördernde Regel nicht hergibt. Angesichts der Titelflut in seiner Kurzbiographie, sollten sich Verlag und Herausgeber überlegen, ob die Biographien nicht auf eine halbe Seite auszudehnen wären: diese prosaischen Zwischentexte sind sehr interessant und erholsam. Außerdem sind dann manche Eitelkeiten nicht so kondensiert ungenießbar wie Tomatensaftkonzentrat.

Werner Lutz hätte sich die dritt- "letzte Meldung" sparen können, das hätte den erstbesten beiden besser getan. Ihre Prägnanz, schöne Zynik gerät über der Binsenweisheit der drittletzten so gut gemeinten in Vergessenheit. Keine (Ground-Zero-) Aussichtsplattformen in Afghanistan? Es standen dort ja auch vorher keine Hochhäuser! ESTRO: der Mann hats gelernt. erst die pastoral epischbreite Eloquenz des Priesters (Amen Bruder, AMEN!!!!), dann der Zwang zur Verdichtung als Industriedesigner! Man sollte mehr Priester zu Industriedesignern konvertieren lassen - (oder umgekehrt! NEIN!! Bloß nicht. das wäre die Inquistion im postmodernen Outfit wie "Chrismon"): 'Am 12. September 2001/ starben wieder Tausende/ schuldlos/ hilflos/ ahnungslos/ wie alle Tage/ man erzählt uns/ der Feldzug/ gegen den Hunger/ sei nicht bezahlbar' Peter Kapp, der nix für seinen Namen kann (wer kann das schon?), filmt seine gedörrten Texte mit dem Camcorder auf dem Weg zur Arbeit und unterm Weihnachtsbaume: Sittengemälde des fin-de-siecle in rohen Vorskizzen eines 'Jung-68ers' mit immerhin 32 Jahren (Trau keinem über dreißig!): 'Christbäume leuchten, leiser Schnee/ rieselt in Afghanistan. Süßer die Glocken/ und bunte päckchen vom Himmel. Glitzert/ Lametta in Höhlen, so friedfertige Kerzen/ gegengewaltigen Hunger ...

Jürgen Bühner macht den etwas verspäteten jungen Wilden. Aber er macht ihn gut, er ist gut und spult intensive Filme ab und an . Nur manchmal leider etwas gestelzt - wenn er LITERATUR schreiben will: "Ich hab so eine weiche Angst/ ein Herz könnte drin sich kugeln" Warum nicht "ein Herz könnt sich drin kugeln"? Oder gibt es da einen mir nicht erschlossenen in-'drin-sich'-en Unterschied?
Vielleicht sollte ich doch etwas zarter formulieren? Vielleicht will ich auch mal im VS (Verband deutschsprachiger Schriftsteller) was werden oder beim Geest-Verlag was veröffentlichen? Was sagen die von mir Geschmähten einmal zu meinen Texten? Fragen über Fragen. Und wenn schon jemand es wagt, den Bleistift zu erheben ... sollten wir uns glücklich schätzen! Tu ich ja, aber schlechte Texte bleiben schlecht, wenn man sie nicht kritisiert. (Manche auch dann noch). Und gut gemeinte Texte sollte man (auch nicht zu häufig) beim Kaffeetrinken vortragen, in der Kantine oder im Pendlerzug, dort kriegt man sofort das passende feedback. So schlimm diese Rezension in Teilen auch klingen mag: sie soll eine Ermutigung sein!
Lamentier nicht rum, du wirst für die Kritik bezahlt (So, wieviel krieg ich denn?) Also nörgel ich weiter.
Grit Kallies hat sich hat ganz unverschämt bei Heine was besorgt, ihn aber leider nicht ins III. Jahrtausend übergesetzt: "Der Tod ist ein Meister/ aus Deutschland, der Tod/ ist ein Meister aus Amerika/ Nahost Fernwest, der Tod/ ...." das ist missverständlich ungenau. Uruquay / NIcaragua.. auch das ist Amerika -Kuba soll auch dazu gehören... Und außerdem hätte ' ist ein Meister aus USA ' besser in den Sprachrhythmus gepasst.
Über den verdichteten Glaßer'schen Weltschmerz noch sinnierend. ( ich hier / du dort/ und keiner / kann springen) stehe ich vor geballter literarischer Kompetenz und ihren 'Soldaten' stramm: "Sie steigen ins Flugzeug/ steigen in den Krieg/ Wer zurück kommt/ bleibt ein Geschundener." Natürlich schindet der Krieg, auch wenn man morgens in ihn einsteigt wie in einen Pendlerzug oder wie Katholiken in die Frühmesse und Protestanten wie in einen Gottesdienst. Das bringt Leid seit tausenden von Jahren, immer wieder das gleiche LeidLied. Jeder weiss, jeder zieht aus, "bringen Leid in die Herzen" ...
Was Lili-Lioba Keller-Strittmatter mit ihrem Gedicht 'Flüchtlinge' erreichen will und vor allem wen! das muss heftig interpretiert werden: "Sie kommen in unser Land/ Träumen vom Paradies/ ihres Lebens...... Drängen in unsere/ begrenzte Heimat.......' Wann kam Frau Strittmatter denn in "unser Land" und warum ist unsere Heimat begrenzt? Für grenzenloses Fluten des Ober-Rheines!
Claudia Scherer überrascht auch Leute, die sie noch nicht von der taz oder vom "seiteschteche" (stachelmundartelnd allwiedergäuend) her kennen: "der soldat/ riskiert/ mit jedem/ wort/ seine lippe" Man traut ihr zu, dass sie mit jedem weiteren Gedicht ihren Wiedereinstieg in die taz riskiert.
Na ja, jetzt mal langsam, so is die taz nun auch wieder nich. Und ob! Eine Frau Meckert von der taz verweigert mir seit Jahren die Aufnahme in die Kulturseiten, die sind so! Leider!
Konstanze Niemz "bring(t) manche Wahrheit aus dem Lot" (Lots Weib?). Auf ihre in Gegenrichtung laufenden Reime zur Klampfe bin ich gespannt. Wo bitte liegt Räckelwitz? Dort möchte ich wie sie geboren sein und in Lausitz mein Bauwesen erarbeitet haben, wenn so was bei rauskommt.
Felicitas Kretschmann schreibt einerseits superkorrekt über einen wie Sigismund Rüstig-Stoiber-Schröder und bricht über ihnen mit ihren Stabreimen den längst fälligen: "sauber, sicher, sieghaft" ... Gibts bei Bush auch noch zwei oder drei "s"? " Zu viel 's'/ erinnere ich mich/ zwei waren schon zu viel". Aber wer will wissen, dass auch sie nach dem 11.9. trost-hilf- und in gewisser Weise auch sprachlos war? Der Wahn ist 'grausig', der Triumpf 'barbarisch' (im Gegensatz zur Pax Romana((das wiederum ist keine Pizza!!)). Da werden nicht nur die barbarischen Kehlen - sondern auch darob Felicitas' 'trockene Tränen' trocken.
Matthias Mala wäre doch besser Stoffdesigner geblieben. Ihm scheint die Grundausbildung als Priester zu fehlen: ssssst wrom/nochmal ++/sssst wrom/noch mal ++/ !!Abscheu!/!!Abscheu!/ noch mal++/ssst wrom... das könnte ich mir als halbdadaistisch-textile Wandbespannung durchaus vorstellen und viele Gäste hätten dann für Konversationslücken die notwendigen Füllsel beim Suchen von bedeutungsschwangeren Menetekeln an der Wand, um dann literarisch hors d'oeuvriert über die Via Matthias Mala zum kalten Buffet vorzudringen : "Krscht schlpf schlf schmtz/schmatzend rülpsend/ausgekotzt/mit schweinegeilem Grins/ im Rüssel schlürft die Sau/ schmoddernd seifend/ gierig geischend grunzend/ den verschleimten Auswurf/auf." Na ja, wenigstens bei diesem weniger design-geeigneten Stoff erreicht Mala fast pastorale Qualitäten. Danach wird's endlich septembrig: "Der Krieg kommt nicht von allein ... Der Krieg kriegt dich von allein."
Hör endlich auf alles niederzuschreiben!
Wieso? "Schreib es nieder!" hat mir doch dereinst meine Mutter beim Hören meiner Reime am Totenbett geraten. Seit dem schreib ich alles nieder.
Aber ich hör ja schon auf, ich werde mich nur noch auf Texte beschränken, die mir gefallen in diesem Buch und es sind derer nicht wenige.
Nur manche sind so reizend, da kann ich nicht widerstehen:
so hätte Verena Raupach 'Dieser (n) einmalige(n) Tag' besser Schwaben Alpdrücke oder Schwalben ohne Abdrücke nennen sollen und bei 'Assassini bleibt unklar ob jetzt die Konkubinen als Schläferinnen die Assassini sind oder ihr großäugiger Sohn der Mauersegler ist. Das Schönste an ihren Texten sind die letzten Zeilen der 'Töchter des Gesangs' :'Von fern tönt der rote Planet/ still vor sich hin/ denn die blaue Erde/ nun ohne Gesicht/ sucht ein neues.' Aber umhauen tut mich das nicht gerade.
Diese Anthologie ist wie für mich zusammengestellt: jedes mal, wenn ich sie trotz allem erwachsenvolksbildnerisch-laienkunstförderprogrammatisch-pädagogischen Eros fast weglegen möchte, kommen Texte wie die von Jenny Schon: 'Der Schneehimmel/ hängt schwer im Hindukusch/ wie meine Brüste/ die in die Jahre gekommen/ wie alt bist du Frieden/ der in mir ruhen sollte/ seit ich mich für dieses Leben/ entschied ... Gedanke Freiheit/ den keine Wirklichkeit gebar/ torkelt im Windfang/ meiner Brauen/ die Steppen sahen/ als Männerhorden/ meine Sehnsucht/ nach Geborgenheit bepissten ...' Das hält mich bis zum nächsten Autor, Wolfgang G. Fienhold, dessen 'Chronologie' in der letzten Zeile den eigentlichen Titel enthält: "Welch eine Katastrophe".... "Chronologie:
Am 8. September sagte Noah: Nach der Sintflut
Am 9. September verkündete Adorno: Nach Auschwitz..
Am 10. September meinte Handke: Nach dem Balkankrieg...
Am 11. September meinten alle Dichter und Songschreiber: Nach diesem Crash müssen wir heroische Gedichte und Lieder schreiben. / Welch eine Katastrophe". Nur welche Gedichte er damit meint, das verrät er nicht eindeutig.
Raymond Dittrichs 'Inmitten der Überschreikommandos, die den Tod ausrufen ... der Stimme Raum geben des gebrannten Kindes, das vor dem Feuer warnt' ist dicht und schwer wie 'Der Fremde'.
BeBe kommt pumperlgsund und saugescheid und politisch auf der Höhe der Biometrie daher: 'kein/genetischer/ Fingerabdruck/ wird je meine/ Seele erfassen!' Und was ist, wenn sie morgen doch die Seele zu fassen kriegen? Schon mal was von Psychopharmaka gehört? Es ist ja alles so wahr, aber eben nicht ewig. Es gibt halt auch hier Verfallsdaten und Halbwahrheitszeiten. Karla Reimert geht in ihren beiden Texten ganz anders als ihr Name vermuten lässt wohltuend sparsam mit dem Endreimsyndrom um: 'Mit Geld kann man / nicht über uns reden' Nur - so schön der Satz auch klingt, er hat doch etwas von diesem ostfriesischen, dass die dick aufgetragene Sahne den Geruch nach Ru(h)m im Kaffee verdecken muss.
Was Georg Bregels Genitalien hier zu suchen haben, bei denen das dicke Ende panisch tropfend woanders kommt, das sollte der Herausgeber bitte noch im Nachwort klären. Doch schon wieder rettet ein Autor das Buch vor dem Zuschlagen: Harald Weils titellose Texte beweisen, dass aus Taxifahrern und Zivildienstverdrückern nicht immer machtgeile Bellezisten werden müssen. Seine Texte sind Bauch- und Hirnweide: 'Im Brauseltopf/ des Kummers/ gabelgefedert/ vor Glücksstößen/ sitzt sich/ recht warm ... Aussichtslos/ der ungleiche Kampf/ gegen Heere/ von Gummibärchen.' ...
Und dann kommen die Texte von Hippe Habasch: Fallbeispiel: Bomben wir/ auf dass/ die Schleier fallen/ und auch die/ sonstigen Hüllen/ in Afghanistan/ und einfach überall/ führen wir/ auf dass/ unsre alten/ Säcke wirkliche/ Jungfrauen finden/ die Zivilisation/ dort ein". Von ihr könnte man ganz gewaltig viel mehr lesen, wenn es denn ein Buch mit ihren Texten gäbe.
Bei den Kanzlerworten Jürgen Herwigs wirds einem warm um die Zyne: "... Ich weiß/ sie sind das Volk/ und alle Macht/ geht von ihnen aus//// aber hier/ stehe ich/ und erkläre/ dass ich regiere:" Man erkennt erstaunt, dass Menschen trotz Germanistikstudium und Tertiärsozialisation an Waldorfschulen das Schreiben nicht unbedingt verlernen.
Das ist der Zwischenstand meiner Zynilemik, sie ist nicht lieb, wie wahr, aber sonst liest sie doch keiner und das Buch ebenfalls nicht.

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