Heyde, Erika: Leider ist die Welt kein Märchen. Gedichte und kurze Prosa

Autor: 

Erika Heyde
Leider ist die Welt
kein Märchen
Gedichte und
kurze Prosa

Geest-Verlag 2012

ISBN 978-3-86685-369-0

230. S., 12 Euro

 

Erika Heydes Schreiben liegt nun endlich in einer ge-sammelten Ausgabe vor. In ihr verdeutlicht sich die Vielschichtigkeit des erzählerischen und lyrischen Schaffens der Autorin, inhaltlich und auch formal.
Die Ansätze ihres literarischen Wirkens schöpft sie dabei aus der alltäglichen Begegnung mit Menschen und der Auseinandersetzung mit realen Situationen des Lebens. In den beiden längeren Prosabeiträgen ‚Lehrerkollegium’ und ‚Krämerseelen’ schaut sie in der Mosaiktechnik, in der jeweils Figuren eines Ganzen in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt werden, hinter das nach außen sichtbare Handeln der Beteiligten. Was sind ihre wirklichen Beweggründe, wie verweben sich diese tatsächlichen Handlungsabsichten der Protagonisten miteinander. 
Das ‚Lehrerkollegium‘ zeigt sich so als ein heterogenes Gebilde von Individuen, das, jeweils getragen von privaten Handlungsintentionen (seien es partnerschaftliche Interessen oder Auseinandersetzung mit individuellen Problemlagen), zu einem oberflächlichen Mitei-nander pädagogischen Handelns gelangt.
Die ‚Krämerseelen‘ erfassen die unmittelbare Nach-kriegssituation in einer norddeutschen Stadt. Anläss-lich eines Balls der städtischen Kaufleute und der mit ihnen in Beziehung stehenden ‚kleinen‘ Leute verdeutlicht sich ein Gewebe individueller Interessenslagen, das zum ‚Motor‘ städtisch-gesellschaftlicher Entwicklung wird. Nicht politische Theorien bestimmen die weitere Entwicklung, vielmehr die private Zielsetzung des Einzelnen, die sehr unterschiedlicher Art ist. Sie reicht vom chauvinistischen Vergnügungsgehabe einiger Wohlhabender bis hin zur verzweifelten Abwehr des völligen Untergangs von Vertriebenen.
Eine besondere Stärke der Autorin liegt genau in die-sem Erfassen der Handlungsabsichten. Dies verdeut-licht sich vor allem in den kurzen Prosaskizzen. Situative Begegnungen mit Menschen, die ergreifen, nachdenklich stimmen, auch durchaus karikieren und entlarven, unsere Sichtweise auf andere Menschen verändern können. In diesen Prosaskizzen wird auch viel von der Autorin selber ersichtlich, vor allem die durch Begegnungen in der Kindheit geprägte tiefe Verbundenheit mit der Natur und ein großes Verlangen nach einem Einklang von Mensch und Natur in seiner ganzen Tiefe.
Durchweg heiterer ist die Lyrik der Autorin angelegt. Hier spielt sie mit Sichtweisen, Situationen, gesell-schaftlichen Konventionen, karikiert Verhalten, ohne dabei je zu verletzen, stellt in Frage und macht auf-merksam.

Prosa und Lyrik der Autorin sind aufgrund ihrer sprachlichen Gestaltung und ihrer Nähe zur Wirklichkeit, ihrer genauen Beobachtung gesellschaftlicher Realität nicht nur ein Lesevergnügen, sie geben auch Impulse zum Überprüfen eigenen Verhaltens, eigener Sichtweisen, ohne dabei zu moralisieren oder Handlungsverände-rungen beim Leser erzwingen zu wollen. Ihre eigene Suche nach der Harmonie zwischen Mensch und Natur begleitet unsere eigenen Sehnsüchte, un-terstützt uns in unserem eigenen Verlangen.
 

Erika Heyde war viele Jahre Lehrerin in Osnabrück und Umgebung, Lehrebeauftragte im Fach Deutsch an der Uni Osnabrück. Neben dem Schreiben entdeckte sie das Malen als Ausdrucksform zur Reflexion ihres Verhältnisses zur Wirklichkeit.  Ihre Doktorarbeit schrieb sie über ein Werk von Annette Droste-Hülshoff.

 

NAMENLOS

Fischrestaurant Hauptbahnhof Hannover.
Mir gegenüber eine alte Frau – bleich, faltiges Gesicht. Graue Augen sehen ins Leere, ihre Blicke lassen sich nicht einfangen. Sie wirkt verloren.
Ich gehe. Sehe sie dann auf dem Hauptbahnhof an anderer Stelle sitzen. Erblicke das, was als ihr Gepäck getarnt ist: eine dreckige Stofflasche.
Sie reist nicht, verbringt offensichtlich ihr Restleben auf dem Hauptbahnhof, wohl um nicht ständig allein in der Wohnung sitzen zu müssen. Sie bemerkt meinen Blick, steht auf, geht.
Wer wird sie finden, wenn sie in der Wohnung vermodert.