Kattelmann, Birgit: Und leise flüstert der Wind

Autor: 

Kattelmann, Birgit
Und leise flüstert der Wind
Titelgrafik: Marion Hallbauer
Geest-Verlag 2004
ISBN 3-937844-36-8
10 Euro

Erzählungen.

Ein sich in Trennung befindliches Paar, ein Kind, eine morgendliche Radtour, der leise flüsternde Wind und eingebunden kleine Erzählungen. Mehr als der Stoff für ein Erzählbuch der besonderen Art.

In unnachahmlicher Weise versteht es die Autorin, den Leser in einen Geschichtenfluss einzubinden, der in ihm selber die Fantasie der Poesie wachruft. Jede Erzählung öffnet ein Stück jener menschlichen Humanität, die in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit nur zu oft verschüttet wird. Satz für Satz, Wort für Wort gelingt es der Autorin, jene Fasern des Lebens in uns wachzurütteln, die in der kommerzialisierten Alltäglichkeit abgestumpft sind – so als ob der Wind die Kraft der Humanität einflüstert, verteilt, jedem von dem, der hören will, zu verstehen gibt.

Es sind nicht die großen Gegebenheiten, die Birgit Kattelman sich zum Inhalt ihrer Geschichten macht. Alltägliche Begebenheiten junger und alter Menschen, in denen sich die Sehnsucht nach einem humanen Leben als anthropologisches Grundelement des Menschen offenbart, nicht immer einlöst, doch Triebfeder der jeweils handelnden Figur ist. „Neue Wege in unserem Paradies finden“, so heißt es am Ende des Buches. Niemand wird von dieser Absicht der Autorin unbeeinflusst bleiben.

Leseauszug:

Die Muschel

Tag für Tag saß Melinda in ihrer Töpferstube.
Ihr schmaler Rücken beugte sich so tief über den Arbeitstisch, dass hin und wieder eine Haarsträhne über ihre Stirn fiel, sie schob sie zurück mit lehmverschmierten Händen, mechanisch, sich der Störung kaum bewusst. Ihre Finger tasteten in dem Klumpen Ton nach der Form, die als ein Bild schon in Melinda lebte.
Selten einmal, wenn die inneren Bilder verblassten, schaute sie auf und betrachtete die fertigen Stücke, die nebeneinander in einem hohen Regal standen. Jedes war wichtig, war Schöpfung und Symbol, und doch steigerten und ergänzten sie sich gegenseitig, gaben erst gemeinsam ihren ganzen Sinn preis.
In den groben, unbehobelten Holzregalen der staubigen Töpferstube stand Melindas stilles Geschenk an die Welt. Weiche, harmonische Formen machten ihre Stücke aus, geheimnisvoll verschlungene Windungen und filigrane, beinahe durchscheinend zarte Seiten wie von Blättern einer Blüte, Mulden wie wasserschöpfende Hände für einen durstig trinkenden Mund.
Melinda schob das Haar aus ihrem Gesicht und neigte sich wieder ihrer Schöpfung zu. Die Tür zur Töpferstube war geöffnet worden, ohne dass sie es bemerkt hatte. Er trat in den Raum. Musterte die Teilchen. „Und? Wie hast du den Tag verbracht?“
Widerstrebend tauchte ihr Geist auf aus Visionen von Wellen und geschwungenen Schneckengehäusen mit Innenwänden wie Perlmutt, lösten sich von halberkannten Gedanken.
„Was ist los? Willst du mir keinen Kuss geben?“
„Doch“, sagte sie. „Natürlich küsse ich dich, mein Schatz.“
Und sie legte ihre warmen Hände, an denen der Lehm schnell trocknete, auf seine sauberen Schultern. Er wich zurück. „Mach mich nicht dreckig ... So. Irgendetwas passiert heute?“
Sie schaute in ihr Regal. Wünschte, er würde sehen. Würde erkennen. Sie blickte ihn an und schüttelte den Kopf.
„Hast etwas Neues gebastelt?“
Einen Moment wartete er. Ungeduldig mit ihrem Schweigen. Er löste sich von ihr.
„Du solltest mal ’was verkaufen. Damit du ab und zu einen Erfolg siehst!“ Er ging.
Sie wendete sich stumm ab. Aus den Wellen, die sich hatten entfalten wollen, war eine schreckliche Sturmflut geworden und hatte die Bilder fort gespült. Das Meer in ihr brandete brüllend gegen die Mauern ihres Schweigens an, ohne sie jemals durchbrochen zu haben. Niemals drang etwas anderes nach außen als ein wenig Feuchtigkeit aus ihren Augenwinkeln.
Ihre Hände schoben eine weite Woge zusammen zu einem Schneckenhaus.
Das Bild in ihr veränderte sich und ihre Hände folgten, bis es im Ton Gestalt annahm und Melinda, selbst staunend, ihre Schöpfung in den Händen hielt und betrach-
tete. Wie eine Muschel wirkte es, gleichzeitig bergend und verletzlich.
Sie würde keine Farbe darüber brennen. Das schlichte, fast triste Grauweiß des feinen Tons passte genau zu dem Namen, den sie ihrem Werk im Stillen gab. Die Muschel.
Sie legte sie behutsam ins Regal, zum Vortrocknen. Dann ging sie ihm nach, um das Abendessen zu richten und hörte ihm zu, als er von seinem Tag berichtete. Er war stolz. Er hatte etwas erreicht. Ich habe etwas bewegt, sagte er. Heute war ein guter Tag. Ich konnte sie überzeugen. Wie ich gekämpft habe!
Sie blickte zu ihm auf. Wie er das konnte – so mit den Leuten zu reden. Er hatte immer Worte. Nicht wie sie. Sie war ganz dumm, denn sie fürchtete, Worte könnten gefährlich werden. Worte könnten einengen und festlegen und vielleicht verloren gehen lassen, was nicht genügend Platz in ihnen fand.
Ihre Werke aus Ton versuchten, es aufzubewahren. Nichts zu verlieren. Denn vielleicht würde ein winziges, heute noch unerkanntes Detail morgen ungeheuer wichtig sein. Was aber, wenn es ihnen dann längst verloren gegangen war?
„Schau mal, Kleines“, sagte er und zog sie auf seinen Schoß. Er hatte ihr ein Buch gekauft. „Du könntest mir sagen, was du darüber denkst.“
Sie schwieg.
Er sah sie an. Enttäuscht, weil sie nichts erwiderte.
Wie sehr sie wünschte, so denken und reden zu können, dass es nicht falsch wurde beim Aussprechen!
Sie war nur froh, dass er sie trotzdem noch lieb hatte, aber sie fühlte seine Geduld abnehmen. Er würde ihr Schweigen nicht mehr lange ertragen. Sie wusste es.
Sie beschloss, etwas zu tun. Etwas, das er verstehen konnte.
Als er am nächsten Tag zur Arbeit gegangen war, nahm sie die Muschel aus dem Brennofen, wickelte sie sorgsam in ein weiches Tuch und trug sie in die Stadt.
Vor einem Geschäft für Kunstgewerbe blieb sie stehen. Sie sah Menschen herauskommen, die ihre Hände zu Fäusten geballt hatten um die Tragegriffe der Plastiktaschen herum. Das war nicht gut.
Melinda drehte sich um und suchte nach einem anderen Geschäft, so geduldig, wie sie in einem Klumpen Ton nach der Form einer neuen Schöpfung suchte.
Sie fand es abseits der großen Kaufhäuser, ein schlichtes Haus mit einem Ladenschild aus Kupfer. Zögernd trat sie ein. Das Lächeln des Mannes hinter dem Verkaufstisch gefiel ihr.
„Bitte sehr?“
Sie wickelte die Muschel aus ihrem Tuch und stellte sie behutsam vor ihn hin und sah wortlos zu, wie er sie lange betrachtete, endlich mit dem Finger wie fragend über die Formen strich und aufschaute, als tauche er auf aus einer Tiefe.
Still, wie vertraut, begegneten sich ihre Blicke.
„Und Sie wollen sie wirklich verkaufen?“
„Ich weiß nicht. Ich wünschte, dass sie jemand bekommt, der ...“ Sie brach ab.
„Müssen Sie denn verkaufen?“, beharrte der Mann ruhig.
Sie nickte.
„Ja, dann ... – Ich muss den Geschäftsführer holen“, sagte er, wie entschuldigend.
Sie wartete.
„Wer ist die Frau? Stellt sie aus?“, dröhnte eine andere Stimme, dann war er da, griff nach der Muschel, drehte sie auf die Unterseite. „Kein Zeichen drauf“, brummte er. „Schon schlecht. So werden Sie nie ’was, bei der Konkurrenz auf dem Sektor. – Wie viele davon gibt es?“
„Bitte?“
„Dieses – ähem, Objekt. Wie viele es davon gibt?“
„Eine. Nur diese.“
„So. Eins. Sie haben wohl noch nichts verkauft? Stellen nicht aus?“
Sie schüttelte den Kopf.
Er seufzte. „Na, was kann ich Ihnen dafür geben ... vielleicht fünfzehn Euro. Ich stell es mal ins Schaufenster. Lassen Sie mir Ihre Telefonnummer da, falls ich noch mal was gebrauchen sollte.“ Er hatte seine Kasse geöffnet während er sprach und ihr das Geld vorgezählt. Sie nahm es und behielt es in der Hand, als sie fortging. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass er die Muschel ins Fenster stellte. Dort lag sie, gleichzeitig bergend und verletzlich, und schimmerte im Licht der Halogenlampen.
Die Leute, die vorüber gingen, warfen Blicke auf das Fenster und betrachteten sich im spiegelnden Glas seiner Scheibe, sie kämmten Frisuren, zogen unauffällig Bäuche ein, richteten Kleider.
„Komm weiter!“, sagte eine Frau lachend zu dem Mann, bei dem sie sich eingehakt hatte. „Deine Krawatte sitzt ... Oh, aber schau doch mal! Ist die nicht wunderschön? Du, die schenke ich dir zu unserer Hochzeit!“ Sie riss sich los und rannte in den Laden, kam hochrot vor Glück wieder heraus. Mit der Muschel in ihrer Hand.
„Freust du dich?“
„Sicher, Liebling“, sagte ihr Bräutigam.
„Damit du an mich denkst, wenn du sie ansiehst!“, hatte seine Braut gesagt. Er nahm die Figur am nächsten Tag mit ins Büro, weil sie es so wollte.
Das Ding, so dachte er, war immerhin als Briefbeschwerer zu gebrauchen.

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