Krull, P.F. Anne: Tupfer eines Ichs

Autor: 

Krull, P.F. Anne
Tupfer eines Ichs
Kindheit und Jugend 1926-1945
ISBN 3-936389-36-5
10,00 €

 

Kindheit und Jugend 1926-1945

Ein unspektakuläres Leben in einer spektakulären Zeit

Das Buch ist mehr als nur eine individuelle Erinnerung an eine sehr behütete Kind-heit und Jugend in einer bürgerlichen Welt der Weimarer Republik und der Nazizeit.
Wenn es der Autorin anfangs nur um die schonungslos-ehrliche Suche nach bleibenden Spuren ihres ICHs gegangen ist, so erweitert sich ihre gefühlsbetonte, oft selbstironische und durch kritische Reflexionen ergänzte Erzählung immer weiter zu einer allgemeinen Dokumentation. Es wird ein authentischer Ausschnitt der damaligen bürgerlichen Welt aus der naiven Sicht eines Kindes präsentiert. Gleichaltrige Frauen werden sich zum Teil wiedererkennen und zum persönlichen Erinnern ermuntert fühlen. Jüngeren Lesern wird die absolute Andersartigkeit dieser historischen Epoche befremdlich erscheinen. Dennoch können diese anschaulichen Schilderungen vielleicht ein Tor öffnen, d zu einem ‚verständnisvolleren' Nachdenken führt.




Leseprobe:

Sollte nicht endlich von den Jugendorganisationen der Nazizeit erzählt werden?
Da gibt es die 10 bis 14 jährigen "Jungmädel". Ihr dunkler Rock ist an der weißen Bluse sichtbar angeknöpft, ein preiswerter Einfall, damit beim Eintritt in den BDM (Bund deutscher Mädchen, 14 - 18 Jahre) nur durch den darüber gebundenen Gürtel die neue Zugehörigkeit zu den "Großen" erkennbar werden kann. Der schwarze Schlips (eigentlich ist es ein zusammen-gerolltes Dreiecktuch) steckt auch bei ihnen wie bei den Hitlerjungen in einem dunklen Le-derknoten. Eine senfbraune samtig aussehende "Kletterweste" vervollständigt als hüftkurze Jacke die Uniform bei kälterem Wetter. Führerinnen tragen als Zeichen ihrer Würde eine Schnur, die der rangniedrigsten "Schaftführerin" ist rot-weiß gedreht, dann kommen Schar- und Gruppenführerin mit grünen, bzw. weißgrünen Schnüren.
Meine heimliche Hoffnung, einmal eine solche Schnur anderen voransingend im Marsch-schritt durch die Straßen zu tragen, erfüllt sich nicht. Vielleicht fehle ich zu oft unentschul-digt, manchmal auch entschuldigt, weil meine Eltern mich für Klavier- und später auch Gei-genunterricht angemeldet haben, der "leider zufällig" nur an den Tagen stattfinden kann, wo ich "eigentlich Dienst" hätte.
Meine frühere Begeisterung, endlich auch wie die anderen, ein "Jungmädel" zu werden und eine Uniform tragen zu dürfen, hat sich ganz schnell gelegt. Was zählt, ist die Unfähigkeit, uns für die Zusammenkünfte zu motivieren oder gar zu interessieren. Von dem dahinterste-henden national-sozialistischen Gedankengut erfahre ich von den nur wenig älteren Führerin-nen kaum etwas. Die meisten von uns zehnjährigen Kindern sind der "großen Idee" gegen-über unkritisch oder gleichgültig - wir kennen keine Alternativen.
Nun sollte wohl erzählt werden, was "Dienst" überhaupt bedeutet. Nur sehr matte Erinne-rungsfetzen kann ich heraufbeschwören: Da gab es die verschiedensten Arten, wie man versuchte, uns Kinder in sinnlose Pflichten einzubinden. Wenn ich Beispiele aus dem Erinnerungssack hervorzaubern sollte, fallen mir eigentlich nur meine unguten Gefühle der Ablehnung und Langeweile ein, die sehr bald nach der Anfangseuphorie, endlich "dazu zu gehören" alles sehnlich Erträumte erstickten.

Dienst I:
Wir müssen uns auf dem damals noch kahlen, großen Roßplatz am Wasserturm an den schul-freien Samstagen versammeln. Das heißt, dass wir ewig herumstehen müssen, warten, nicht wissend, warum und auf wen und auf was. Hilflose Führerinnen. Immer wieder müssen wir uns in Reihen aufstellen und durchzählen, um dann endlich mit lautem Gesang loszumar-schieren. Ich erinnere mich nicht, dass es auch nur ein einziges Mal ein attraktives Ziel dieser Marschiererei gegeben hätte.
Selbstzweck das Ganze!
"Wir sind jung, die Welt ist offen!"

Dienst II
Da sind "Heimabende", die nachmittags in einem Raum unserer "Ortsgruppe" stattfinden. Wir hören Wundersames über unseren Führer Adolf Hitler und die tapferen Soldaten, die für Deutschland kämpfen. Wir singen und flöten, Spiele werden gespielt oder dumme Witze er-zählt - und meistens enden diese Nachmittage zur allgemeinen Erleichterung früher, als ei-gentlich planmäßig vorgesehen

Dienst III
Natürlich ist auch dieses total unwesentlich im großen Kontext der damaligen Zeit. Aber da ist mein Bild, mein Erinnern an eine lange baumlose Asphaltstraße unter einer sengenden Sommersonne und an viele Kinder in Jungmädeluniformen und Pimpfe in ihrer Kluft. Wir sind am Straßenrand hingestellt worden, wir sollen jubeln und ihn begrüßen, den Stellvertreter unseres Führers, Rudolf Hess, der an uns vorbei zu seinem Ziel in Halle unterwegs ist. In einer Kette von Autos wird er an uns vorbeifahren, wenn wir nur lange genug geduldig gewartet haben auf sein Kommen und unser befohlener Jubel wird gesättigt werden von dem Glanz dieser großen Stunde.
Dieses sinnlose schwitzende Warten ist eigentlich alles, was ich noch weiß von diesem Tag. Denn als endlich, endlich die lange Autokolonne kommt, ist einzig in mir die hilflose Frage, wer von diesen Männern, die wie in einem hellen, undifferenzierten Schweif eines Komets an uns vorüberfliegen, nun eigentlich Rudolf Hess gewesen ist, für den wir alle Strapazen erduldet haben. Sicher, meine Augen haben ihn wahrscheinlich gesehen, das werde ich jeder-zeit behaupten können, aber ich habe ihn nicht erkannt. Nichts weiß ich noch von dem, an was mein kleiner Bruder sich erinnert.
Warum war der überhaupt dabei? Warum haben ihn meine Eltern mit mir gehen lassen? Hat der kleine Kerl gebettelt, mitgehen zu dürfen? Und er beschämt mich heute nach so vielen Jahren, weil der drei Jahre jüngere noch Reales weiß, und ich nur noch Gefühle heraus kra-men kann. Jürgen erzählt, dass hinter unserer kindlichen Jubelkette merkwürdiger Weise Männer (SA? SS? Oder Polizei?) mit dem Rücken zur vorbeirasenden Autokolonne gestanden haben. Warum das? Kann man Mutters Erklärung nach unserer Heimkehr glauben, dass sie wahrscheinlich zum Schutz bestellt waren gegen heimliche schießbereite Feinde des Stellver-treters unseres geliebten Führers. Kann denn so etwas sein? Sollte es wirklich Menschen ge-ben, die ihn nicht lieben sondern hassen? Ich erinnere mich nicht an die damalige häusliche Diskussion, sollte mich eigentlich schämen, dass ich mit Sicherheit nur noch von meiner wü-tenden Enttäuschung und dem ungestillten Durst dieses glühend heißen Tages weiß...

Dienst IV
Wenn wir an bestimmten Tagen im Jahr mit einer Sammelbüchse für das Winterhilfswerk WHW-Abzeichen auf den Straßen verkaufen sollen, finde ich das bedeutend lustiger. Heute würde man sagen, dass hier einfach mehr "action" ist. Weil wir in unserer Uniform, die wir als einen gewissen Schutz empfinden, das Recht auf unserer Seite glauben, jagen wir die Bür-ger (sprich: Volksgenossen), die noch kein Abzeichen am Mantel angesteckt haben, mit un-serm scheppernden Geklapper und nötigen sie zum Kauf eines Abzeichens für 20 Pf. Dass man sogar vorübergehende Soldaten anquatschen kann, ohne errötend Sitte und Anstand zu verletzen, ist ein zusätzlicher Jux, der "im höheren Auftrag" geschieht..
Mit 14 Jahren findet unser zwangsläufiger Übergang in den BDM (Bund deutscher Mädchen) statt. Endlich dürfen wir unsere inzwischen entwickelte Taille mit einem Gürtel etwas kleid-samer einengen.
Gleiche Langeweile wie bisher, ich schwänze immer häufiger den Dienst, aber dies hat keine ärgerlichen Konsequenzen. Irgendwann kommt - gleichsam als vorbereitender Übergang zur späteren "Frauenschaft" - eine Eingliederung in die Organisation "Glaube und Schönheit", Spötter vertauschen das "und" in ein "an" !. Ich kann nur sagen, dass ich nichts als zwei winzige verblasste Erinnerungen an diese Zeit habe. Ich gebe es zu, etwas dürftig! Immerhin habe ich einmal an einem "Heimabend" der Organisation der Schönheit und des Glaubens teilgenommen, an dem wir die ganze Zeit Strümpfe stopfen mussten für verwunde-te Soldaten. Das trug mir argen Tadel ein, als man - nachdem meine schnelle Stopferei an-fänglich staunendes Lob geerntet hatte - bei genauerem Hinsehen feststellte, dass ich die Riesenlöcher durch energisches Zusammenziehen vor dem eigentlichen Stopfprozess künst-lich minimiert hatte. Empörend! Nun wird's doch endlich auch mir klar, dass es schon be-gründet war, einer solchen albernen Schlampe nicht eine Führungsposition bei den "Jung-mädeln" anzuvertrauen!
Der andere Rückblick führt mich zu einem Sportplatz im Süden von Halle. Hier müssen wir immer wieder proben, uns in gleichmäßige mit anderen Mädchenkörpern synchrone Schwin-gungen zu versetzen. Einen großen Reifen müssen wir im Takt über unseren Köpfen wehen lassen - ja "wehen" wird verlangt. - in ein paar Wochen unermüdlichen Übens sollen wir dann für ein riesengroßes Massenspektakel - nein, so darf ich das nicht nennen - also einer "Schau des Glaubens und der Schönheit" präpariert sein. Eines Tages sollen wir zusammen-geführt werden mit Hunderten gleichdressierter, gleichgesinnter deutscher Mädchen aus vie-len anderen Orten, mit denen dann als weiterer Schritt die Zusammenführung auf einem gro-ßen Sportplatz immer wieder und immer wieder geübt werden soll.
Wenn alles einwandfrei verläuft, werden wir am Ziel unserer heißesten Wünsche sein! In ei-nem großen Stadion wollen wir unserem geliebten Führer eine Geburtstagsüberraschung be-reiten. Es soll ein Fest sein, welches das Wort "Ich bin nichts, mein Volk ist alles" symboli-siert.
Ich hasse diese befohlene Harmonie, ich hasse diese befohlene Entpersönlichung, ich hasse dieses unverschämte Verfügen über sinnlos gestohlene kostbare Stunden. Ich gehe nach den ersten beiden Übungsvormittagen nicht wieder hin. Erstes bewusstes Aufbäumen gegen den Geist dieser Zeit. Ich nehme endlich wahr, dass man uns manipulieren will.
Wie egozentrisch dies alles, als gäbe es nicht in diesen Jahren ungleich Schrecklicheres, das Menschen zugefügt wird.