Tuttlies, Frauke: Alles Lüge

Frauke Tuttlies

Alles Lüge.

Geest-Verlag 2008

ISBN 978-3-86685-166-5

 

Henrys Hochzeit
(Ausschnitt)

Sobald Henrika das Haus verließ, nahm sie Haltung an. Ging erhobenen
Hauptes die Straße entlang, als hätte sie einen roten Teppich unter den
Füßen, der ihren Schritt zugleich betonte und dämpfte.
Wenn Henrika lange Zeit nicht auf der Bühne gestanden hatte, war ihr
dieser stille Gang über den roten Teppich, der vor ihrer Haustür
begann, nicht genug. Dann warf sie den Kopf zurück, schob ihre Brust
heraus und begann, auf der Straße zu singen. Meistens ein Stück aus
irgendeinem Musical. Henrika mochte Musicals. Und Lieder von Brecht.
Hinterher sah sie mich an. Frech, forsch, stolz, von oben herab und zwinkerte mir zu. Ich zwinkerte zurück.
Sie wohnte eine Etage über mir. Ich konnte sie hören. Nicht nur, weil das Haus, in dem wir lebten, hellhörig war.
Henrika war ausgebildete Sängerin. Ihr Sopran drang durch die Wände,
durch meine Ohrstöpsel. Ich brauchte keinen Wecker zu stellen,
frühmorgens wachte ich mit ihrer Stimme auf. Sie schwebte über mir,
frei im Raum und fand doch überall Halt. Ich hörte, wie sie die
Sprossen der Tonleitern höher und höher kletterte. Mit festem Tritt.
Absolut schwindelfrei. Sie stürzte nie ab.
Henrika verlor beim Singen nicht den Bodenkontakt.
Ich stand auf und ging unter die Dusche. Wenn Henrika sich warm
gesungen hatte, kochte ich mir einen Tee. Wenn sie mit ihren
Übungs¬stücken be¬gann, nahm ich an meinem Schreibtisch Platz.
Egal, ob die Sonne schien, es draußen regnete, schneite, blitzte oder
hagelte, Henrika sang und ich schrieb. Wir waren ein Arbeitsduo.
Als Henrika eines Tages mit wirren, fliegenden Haa¬ren und geröteten
Wangen in meiner Wohnungstür stand, erschrak ich ein wenig. Ihre Augen
glänzten, ihr Blick war fiebrig. Selbst ihre Stimme schien zu
vibrieren. Dieser Mann, verkündete sie, ist es, lach¬te schnell und
hell und bat mich, komm hoch!
Rüdiger lag auf Henrikas Sofa wie ein wohlgenährter Buddha. Seine
Leibesfülle drückte sämtliche Sofakissen platt. Er reichte mir seine
müde, schlaffe Hand und unterdrückte ein Gähnen.
Henrika brachte uns Trauben, sie holte Käse, lief nach Wein. Rüdiger
lag weiter matt auf ihrem Sofa. Wie ein Kuckuck im Nest, musste ich
denken.
Der Kuckuck sperrte den Schnabel auf und wollte mehr. Henrika sprang auf

.......

 

Literatur als Lernprozess eines Miteinanders

Tief hinabblicken in die Verhaltens- und Gefühlwelten von Menschen –
auch in eigene – lässt uns die Autorin in diesen elf Erzählungen, einem
Mosaik von Persönlichkeiten, das sich in der poetischen Verdichtung
jedoch zu einem Mosaik gesellschaftlicher Lebenswirklichkeit erhebt,
als deren offensichtlichste Ausprägung ein von der Normalität
abweichendes, vielfältiges, buntes Verhalten erscheint. Verhalten wird
dabei nicht verstanden als bewusste, politisch-gesellschaftliche
Einstellung, vielmehr als Lebensfluss eines gesellschaftlich
unbeeinflussbaren Seins. Seien es Henrika, die Sängerin,  Rüdiger, der
auf dem Sofa hockende Kuckuck oder die anderen Figuren – sie sind so,
weil sie so sind, nicht gesellschaftlich, nur individuell, aus ihrer
jeweiligen biografischen Besonderheit erklärbar.

Die ProtagonistInnen der einzelnen Erzählungen  scheinen uns dabei
nach nur wenigen Sätzen durch zielsichere knappe Skizzierungen
eigentümlich vertraut, obwohl es Frauke Tuttlies – dies ein Ausdruck
ihrer zutiefst humanistischen Ausprägung – dabei gelingt, stereotype
Schubladenkategorisierungen zu vermeiden. Jede in die Handlung
eintretende Figur besitzt ihre jeweilige Persönlichkeit und behält
diese auch im Erzählverlauf. Das Handeln, so die Erzählabsicht, ist
nicht zu beurteilen sondern individuell zeichen- und erklärbar und in
seiner Bedeutung für den jeweils Anderen bemessbar und in diesem Sinne
auch beurteilbar.

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