Alfred Büngen liest am 7. Februar aus Meinheit, Paul: Die Tagebuchaufzeichnungen des Seefahrers Paul Meinheit (1869 - 1952) in der pro vita in Vechta

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Die Tagebuchaufzeichnungen

des Seefahrers Paul Meinheit
von 1889 bis 1905
Geest-Verlag, Vechta 2015


ISBN 978-3-86685-529-8
232 S., 12 Euro

In den fernen Welten von Segelschiffen und Südsee dürfen wir mit diesem Buch leben.  Die faszinierenden Tagebuchaufzeichnungen des Seefahrers Paul Meinheit (1869 geboren und 1952 gestorben). Das Tagebuch ist ein wunderschönes Beispiel dafür, wie Menschen in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gedacht und gefühlt haben, welche Vorstellungen von der Welt sie bereits entwickelt hatten.

„Wo steckt de verdreite Junge nu wedder? Hein, hol em mal unt’m Logis und sag em, spucken künn he nachher, wenn seine Wach to Koje is!“ – Fürchterlich hatte mich die Seekrankheit gepackt; kaum noch imstande, mich auf den Beinen zu halten, taumelte ich bei den Worten des Steuermanns, welche ich von meiner Seekiste aus, auf welcher ich lag, gehört hatte, an Deck.
Ehe ich mich versah, hatte ich einen freundschaftlichen Fußtritt in der Mitte zwischen Südwester und Seestiefel sitzen und wurde zwischen eine Gruppe heulender Matrosen gestoßen, welche, der Himmel mag wissen, an was für einem Tau zogen. Mechanisch zog ich mit – oder tat wenigstens so, bei meinem erbärmlichen Zustand.
Am 5. November 1889 hatte die Hamburger Bark ‚Thalassa’ den heimatlichen Hafen verlassen, um mit Stückgut eine Reise nach Guayaquil, den Hafenplatz von Quito in Ecuador, anzutreten. Nun heulte der Weststurm mit Windstärke 10 durch die stockfinstere Novembernacht, die Wogen der Nordsee hoch aufpeitschend. Ununterbrochen prasselte der Regen nieder und schwere Brecher überfluteten die machtlos ankämpfende ‚Thalassa’.
Bis auf die Haut durchnässt, zitternd vor Frost und sterbenselend stand ich nun zwischen diesen Gesellen an Deck und zog an dem Tau.
Täglich bestürmten nun Eindrücke das aufnahmefähige Gemüt und hoffnungsfroh sah ich der Zukunft entgegen. Das war ja alles ganz etwas anderes als lateinische Syntax büffeln oder Hunderte blödsinniger Jahreszahlen der griechischen, römischen oder mittelalterlichen Geschichte auswendig zu lernen. Dieses hier war wirkliches Leben und Erleben. Zorn erfasste mich oft, wenn ich, auf Ausguck stehend, an die vielen schlaflosen Nächte zurückdachte, welche mir das stumpfsinnige Einpauken toter Schulweisheit bereitet hatte. Was war dieses hier bei aller straffer Disziplin ein freies Leben! Wie mundeten die wie früher warm bereiteten Erbsen und Bohnen mit Speck dem ewig hungrigen Jungen! Da ich doch schon im 20sten Lebensjahre stand und trotz meiner Schulkenntnisse, welche die der meisten meiner Kameraden bei Weitem überragten, gegen jedermann freundlich und hilfsbereit war, so hatte ich mir an Bord bald eine Position geschaffen, welche sonst Schiffsjungen, die ihre erste Reise machen, nicht beschert ist. Als dann der Äquator passiert und auch an mir die obligate Linientaufe vollzogen war, wodurch mich erst Neptun, wie mein Taufschein bezeugte, als eines seiner Kinder anerkannte, da fühlte ich, dass ich bereits so viel gelernt hatte, um mich als daseinsberechtigtes Mitglied unserer kleinen Schiffsgemeinde zu betrachten. Da ich in puncto ‚Weib’ noch ein vollkommenes Kind war, horchte ich erstaunt und nicht verstehend den Auslassungen der Matrosen über die Frauen. Brummend war ich aufgesprungen und Hein Müller, so hieß der Vorwitzige, hatte seinen Frust zwischen seinen Zähnen sitzen. Die Matrosen brüllten vor Vergnügen und ich schlich mich hinaus an Deck. Als ich dann nachts auf Ausguck stand, kam Hein zu mir auf die Back und schenkte mir eine Zigarre. Ich war inzwischen bei ruhiger Überlegung zu der Überzeugung gekommen, dass all dieser Schnack nicht so tragisch aufzufassen sei, so nahm ich dankend die Giftnudel an und Hein und ich wurden dicke Freunde.

 

veranstaltungsdatum: 

7. Februar 2016

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