16.10.2018 - aktuelle Autorin - Renate Blauth


Blauth, Renate


Renate Blauth, geboren 1942 in Vechta, aufgewachsen in Dinklage, studierte Lehramt an der pädagogischen Hochschule in Oldenburg und unterrichtete viele Jahre an einer Grundschule in Wilhelmshaven. Heute lebt sie in Wildeshausen. Auf der Suche nach späten Spuren ihrer Kindheit ist der Stoff für ihr Buch zusammengekommen.

Auszug aus: Späte Spuren:

Höchste Zeit

Viel wurde über Krieg und Frieden schon geschrieben und man könnte meinen, alles sei schon tausendfach ausgesprochen. Doch mit einem anderen Blick auf die Dinge be-kommt das Geschehen ein neues Gesicht und jedes Einzelschicksal seine ganz besondere Bedeutung.
Der Krieg hatte das erste Kapitel meines Kinderlebens geschrieben und war nicht ohne Folgen für meine Zukunft geblieben. Auch das Leben meiner Mutter hatte er nachhaltig geprägt, zudem hatte der Krieg meinen Vater auf dem Gewissen. Er war Soldat gewesen und blieb verschollen – bis heute.
Nun war es höchste Zeit, die Fragen zu stellen, die mir noch immer schwer auf der Seele lagen, sie duldeten keinen Aufschub mehr. Kaum jemand lebte noch, der die Ant-worten kannte. Die Menschen, die mir nahe gewesen wa-ren, hatten sie stillschweigend mit ins Grab genommen. Doch Vorwürfe lagen nicht in meiner Absicht, zum Teil hatte ich es mir auch selbst zuzuschreiben. Viele Gelegenheiten hatte ich ungenutzt verstreichen lassen: „Jetzt nicht, heute nicht“, so schob ich es vor mir her, und dann war es zu spät. Erst als ich es erkannte, wurde mir bewusst, was ich ver-säumt hatte.
Nun waren die Dinge in Gefahr, für immer verloren zu gehen. Unbedingt wollte ich sie aufhalten, weil sie ein Teil meines Lebens sind. Ich wollte das Buch meiner Kindheit aufschlagen und die leeren Seiten darin ausfüllen, die Geschichten, die darin fehlen, gibt es seit langer Zeit, das Leben hat sie längst vollendet.
Die meisten unbeschriebenen Blätter haben mit meinem Vater zu tun, er kam in meinem Leben nur sehr selten vor, nur für Schriftstücke durfte er hin und wieder seinen Namen hergeben. Nichts von ihm war greifbar für mich.
Ich war ein Kriegskind mit Halbwaisenrente, allein mit meiner Mutter. Auch in ihrem Leben hatte es einige Jahre gegeben, über die ich kaum etwas wusste. Während des Krieges hatte sie im Dienst der Luftwaffe gestanden, später wollte sie darüber nicht mehr viel reden. Mein Vater war ebenfalls bei der Luftwaffe gewesen, er gehörte zu den unzähligen Soldaten des Zweiten Weltkrieges, die geopfert wurden für eine Sache, die nichts taugte und Menschenleben sinnlos verschwendete. Bis heute steht er als Vermisster in den langen Listen. Irgendwann wurde er für tot erklärt und das vermutete Todesdatum für meine Waisenrente festgehalten. Das war alles von ihm!
Er blieb ein Unbekannter für mich, weil meine Mutter es vermied, ihn in unsere Nähe zu rücken – und ich nahm es einfach hin. Lange habe ich jetzt darüber nachgedacht, auch über die Gründe für das Schweigen meiner Mutter.
Überhaupt drückten die meisten Menschen sich vor dem Thema Krieg, sie waren sich ziemlich einig, dass man ihn so schnell wie möglich vergessen sollte, so, als hätte es ihn nie gegeben. Oft büßten die gefallenen Väter viel zu schnell ihren Platz ein, sie kamen in ihren Familien nur noch selten vor und wir Kinder wagten nicht, unbefangen nach ihnen zu fragen. In Wirklichkeit fehlten unsere Väter uns sehr, vielleicht mehr noch als unseren Müttern.
In meinem Leben hatte jedenfalls nichts diesen weißen Fleck ausfüllen können, nur verdeckt war er gewesen für kürzere oder längere Lebensabschnitte. Immer wieder kehrte die leise Vatersehnsucht zurück, für die ich keine passenden Worte fand. Sicher hatte sie auch mit den viel zitier-ten Wurzeln zu tun, die man braucht, um Fuß zu fassen auf dieser Welt, um sicher im Leben zu stehen. Aber dieses Bild von den Wurzeln, es traf nicht den Kern, weil es mein Herz nicht berührte.
Als Kind hatte ich mir einen Vater zum Anfassen gewünscht, und als das Schicksal es anders bestimmte, hätte ich unbedingt ein paar Geschichten über ihn gebraucht, we-nigstens eine Vorstellung von ihm. Mir fiel dazu eine Stelle bei Antoine de Saint-Exupéry ein, als der Fuchs dem kleinen Prinzen erklärt, wie wichtig es ist, sich miteinander bekannt zu machen. Nur so können die Menschen Vertrauen zuei-nander gewinnen und einzig werden füreinander. Deshalb wollte ich etwas von seinem Leben finden, wollte endlich wissen, woher er kam und was für ein Mensch er gewesen ist. Und wenn es mir gelingen würde, dann könnte mein Va-ter noch Jahrzehnte nach seinem Tod lebendig werden für mich und in meiner Erinnerung den Platz einnehmen, der ihm gebührt.
Also musste ich etwas über seine Aufgabe bei der Luft-waffe in Erfahrung bringen und über seinen Weg, den er im Kriegsverlauf genommen hatte. Natürlich war ich mir dar-über im Klaren, dass er auf seine Weise als Handlanger an diesem verbrecherischen Krieg mitgewirkt hatte – ein zwie-spältiges Gefühl, das in der Magengegend drückte. Hatte ich auch deshalb meine Fragen so lange vor mir hergeschoben, weil ich die Antworten darauf scheute? Auch die Ant-worten zu der Zeit, als er mein Vater wurde? Plötzlich fingen die Dinge an, mir meinen Frieden zu nehmen. Deshalb woll-te ich die Vergangenheit nicht länger ruhen lassen, das Rückwärts ist richtig, wenn es einen Gewinn für die Zukunft verspricht.
Zunächst hatte ich dabei nur an mich gedacht, auch Selbstmitleid trieb mich an. Aber so konnte es nichts wer-den mit dem Vertrauen, ich musste die Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Für meinen Vater wollte ich es tun, als seine Tochter war ich ihm etwas schuldig geblie-ben. Viel zu lange hatte ich ihm aus großer Distanz sprachlos gegenübergestanden. Jetzt aber spürte ich ein Bedürfnis nach Nähe und fühlte mich verpflichtet, sein Andenken zu bewahren.
Und plötzlich war nichts mehr viel zu lange her, und auch dass Millionen Kinder mit mir das gleiche Schicksal teilten, sprach nicht gegen mein Anliegen. Gerade deshalb machte es Sinn. Meine Unruhe wuchs von Tag zu Tag und sprach mit fordernder Stimme, denn die Zeit drängt, wenn man in mei-ne Jahre gekommen ist!
Wenn wir uns im Dunkel der Vergangenheit kleine Lichter anzünden, kann es hell werden um uns und friedlich in unseren Herzen.