Alexandra Milas - Auszug aus ihrem Roman zum Internationalen Tag der Beendigung von Gewalt gegen Frauen

Wenige Jahre vor der Jahrtausendwende wurde ich, Alexandra, als Mädchen in einem weit von Deutschland entfernten Land geboren. Meine Eltern hatten einen Sohn erwartet. Ich bin mir sicher, dass die Worte der Hebamme bei meiner Geburt meine Mutter wenig trösteten: „Welch ein wunderschönes Kind hast du zur Welt gebracht. Deine Tochter ist im Zeichen des Mondes und des Sterns geboren, hat den Mond und den Stern als Zeichen der Schönheit als Muttermal auf dem Bauch. Du solltest stolz sein, eine solche Tochter auf die Welt gebracht zu haben.“
Alexandra
Doch meine Mutter weinte und sagte unter vielen Tränen: „Was nutzen diese Zeichen der Schönheit? Ich habe eine Tochter zur Welt gebracht. Was werden mein Mann und meine Familie sagen? Sie erwarten einen Sohn von mir. Ich wünschte mir, ich hätte ein totes Kind geboren.“

So war niemand über meine Geburt glücklich. Ich war ein ungewolltes Kind, ein ungewolltes Mädchen. Doch dafür ein außergewöhnlich liebes und kluges Kind. Mit neun Monaten machte ich bereits erste eigenständige Schritte und konnte erste Wörter sprechen. Und es umgab mich eine seltsame Aura, die von allen bemerkt wurde und immer wieder zu eigenartigen Situationen führte. Wir wohnten in einem Haus an einem großen, reißenden Fluss. Ich war noch sehr klein, vielleicht zwei oder drei Jahre alt, da sah ich, wie zwei Männer versuchten, am steilen Ufer Wasser aus dem Fluss zu schöpfen, um es zu trinken. Ich schrie sie mit der Kraft meiner Kinderstimme an: „Ihr Männer, was macht ihr da? Schöpft dieses Wasser nicht so, ihr werdet in den Fluss hinabstürzen und ertrinken! Lasst mich ein Gefäß zum Schöpfen holen.“
Die Männer schauten mich entsetzt an. Sie erblickten ein kleines Mädchen in einem weißen Kleid, das wie von Sinnen schrie. Vor lauter Schreck entflohen sie diesem seltsamen Anblick.
Nur zwei Tage später stand ich mit meiner Mutter vor der Tür unseres Hauses und die beiden Männer gingen wieder vorbei. Sie erkannten mich als das geheimnisvolle Wesen von vor einigen Tagen und fragten meine Mutter, ob ich ihre Tochter sei.
„Ja, aber was geht Sie das an und weshalb fragen Sie mich?“
„Vor einigen Tagen“, erzählten die Männer, „haben wir uns beim Anblick deiner Tochter sehr gefürchtet. Sie stand da und rief uns in ihrem weißen Kleid warnende Sätze zu. Wir dachten, wie kann ein solch kleines Kind schon denken und solche Warnungen aussprechen? Da hier in der Gegend aber auch viel Wald und ein Friedhof sind, haben wir gedacht, dass eine Tote auferstanden ist und uns warnen wollte.“
Nun, da sie sahen, dass ich ein lebendiges Menschenkind war, entschuldigten sie sich bei mir. „Wir haben einfach Angst vor dir gehabt.“
Großzügig meinte ich Kleinkind: „Für mich ist das kein Problem.“

Meine Mutter hatte mich zu Hause geboren. Niemand wusste später, da ich keinerlei amtliche Eintragung in ein Geburtsregister durch eine Klink oder eine Behörde hatte, wie alt ich wirklich war, zumal meine Eltern für mich auch nie einen Ausweis beantragten. Als ich drei Jahre alt wurde, erfolgte durch die politische Administration eine Veränderung. Als damaliger Premierminister des Irak erließ Saddam Hussein eine Verordnung, dass alle Eltern, die Zwillinge geboren hatten, jeden Monat zehn Dollar finanzielle Sonderförderung und eine Trockenmilchration bekommen sollten. Mit einem Mal wurde ich ausweismäßig Zwillingsschwester meines drei Jahre älteren Bruders. Ich wurde dabei zwei Jahre älter, mein Bruder ein Jahr jünger gemacht. Ich fand es ungerecht. Doch ich war noch zu klein und verstand auch alles noch nicht so recht.
Meine Mutter schaute damals immer türkisches Fernsehen, mit Vorliebe die türkischen Schauspieler und Sänger Ibrahim Tatlıses und Kucuk Emrah. So habe ich, die mit der kurdischen Sprache aufwuchs, über das Fernsehschauen Türkisch gelernt. Niemand außer mir sprach die türkische Sprache bei uns daheim. Gegenüber unserem Haus aber gab es einen türkischen Lebensmittelladen. Meine Mutter kaufte dort fast jeden Tag mit mir ein. „Hey Onkel, wie geht es dir?“, begrüßte ich den Händler immer in seiner türkischen Sprache und fügte dann rasch hinzu: „Was schenkst du mir heute?“
Der Händler war immer glücklich und zugleich überrascht, wenn ich ihn in seiner Sprache ansprach. Zu meiner Mutter sagte er: „Wie kann es nur sein, dass ein so kleines Mädchen mit drei Jahren aus dem Fernsehen Türkisch lernt.“ Mein Lerneifer imponierte ihm so sehr, dass er mir jeden Tag Süßigkeiten schenkte und zu meiner Mutter sagte, dass alles, was ich bei ihm an Süßigkeiten naschen würde, für mich kostenlos sei.

Mein Vater war der Kommandant unserer Stadt. Immer herrschte Krieg in den damaligen Jahren. Eines Tages überfiel eine Gruppe von Terroristen unsere Stadt. Sie zerstörten viel und töteten zahlreiche Einwohner.
Ich war damals neun Jahre alt. Wir haben zu dieser Zeit in unserem Garten geschlafen. Die Strom- und Wasserversorgung im Haus funktionierte nicht. In einer dieser Nächte kam einer der Terroristen und nahm mich mit. Sie sperrten mich zusammen mit zwei anderen Kindern in einen Keller.
Wir haben sehr viel geweint, Tag und Nacht hatten wir Angst. Schläge gab es jeden Tag, Essen hingegen nur alle paar Tage einmal. Doch es sollte noch schlimmer kommen.
Eines Tages kam einer der Männer und sagte, dass wir genau das machen müssten, was sie sagen würden. Wir sollten auch eines Tages solche Kämpfer wie sie werden und müssten jetzt lernen, wie man gehorcht und tötet.
Nach einigen Stunden brachten die Terroristen, der Anführer und zwei Männer und zwei Frauen, einige Geiseln mit, die sie gefangen genommen hatten. Der Mann befahl den Frauen, dass sie, wenn sie Terroristen sein wollten, eines von uns Kindern oder eine der Geiselfrauen töten müssten.
Die Frauen begannen zu weinen und erklärten, dass sie das nicht könnten. Das sollte ihr eigenes Schicksal sein. Zwei der Terroristen hielten eine der Frauen fest und der Anführer schnitt vor unser aller Augen der Frau den Kopf ab.

Nie wieder in meinem Leben habe ich mich so erbrochen, wie ich es da aus Angst um mein eigenes Leben und aus Entsetzen über das Handeln dieser Männer tat. Noch heute sehe ich dieses abscheuliche Morden in meinen Träumen.

Einen Monat wurden wir als Geiseln festgehalten. Dann eines Tages hörten wir in unserem Gefängnis den Lärm eines Hubschraubers und wildes Schießen. Wir hatten entsetzliche Angst, dass man uns jetzt töten würde. Doch wir wurden befreit. Ich konnte nicht mehr sprechen, ein Kind war völlig verrückt geworden vor Angst, nur das dritte Kind hatte die Haft und die Befreiungssituation einigermaßen heil überstanden.
Drei Stunden hat diese Befreiungssituation amerikanischer Soldaten gedauert. Mit den Befreiern war auch mein Vater gekommen, der mich mit nach Hause nahm.
Hatte ich gedacht, dass jetzt der Albtraum der Geiselhaft vorbei war, so hatte ich mich getäuscht. Weder mein Vater noch meine Mutter nahmen mich in den Arm oder versuchten, mir meine Angst zu nehmen und das Geschehene mit mir aufzuarbeiten. Stattdessen wollten sie von mir wissen, was die Terroristen mit mir gemacht haben. „Die Leute“, so schrien sie mich an, „wollen wissen, was diese Männer mit dir gemacht haben.“
Ich aber konnte ihnen keine Antwort geben, da ich nicht mehr reden konnte, nicht sagen konnte, welche Grausam-keiten ich in der Haft erlebt hatte.
Ich wusste und verstand nicht, was Vater und Mutter von mir wollten. Ich wusste nicht, was sie hören wollten. Immer wieder brüllte mein Vater mich an, dass ich sagen sollte, was man mit mir in der Haft veranstaltet hätte. Doch die grausame Erinnerung ließ mich weiter schweigen. Da nahm mein Vater einen Stock und schlug auf mich ein, damit ich verriet, was die Terroristen mit mir gemacht hatten. Doch ich brachte kein Wort über meine Lippen, wusste nicht, was er von mir hören wollte.
Nida
Erst nach vielen aufgeschnappten Gesprächsfetzen der zahlreichen Verwandten bekam ich endlich mit, was alle wissen wollten. Es ging um meine Unschuld, sie wollten wissen, ob ich in der Geiselhaft missbraucht worden war. Und tatsächlich riet die große Familie meinem Vater, mich, sollte ich weiterhin nicht reden über das, was passiert war, lieber zu töten ...