Alina Werth - Stille in meinem Zimmer

Alina Werth, 20 Jahre, Osnabrück
Stille in meinem Zimmer

‚Es war eine Art Eintauchen in eine vergessene Form des Lebens‘. Ich schaute aus meinem Sprossenfenster in die Abenddämmerung. Ich saß an meinem Schreibtisch im Dämmerlicht meiner Schreibtischlampe. Vor mir lag mein Notizbuch. Ich versuchte, die letzten Monate zu verstehen, aber es war so unbegreiflich, was alles passiert war. Ich las den Satz, den ich soeben geschrieben hatte, nochmal: ‚Es war eine Art Eintauchen in eine vergessene Form des Lebens‘ – ich setzte den Kugelschreiber an und schrieb: ‚Eine vergessene Form des Lebens, die aus Einschränkungen unserer Freiheit, aus Existenzängsten, die sich plötzlich durch jede Schicht der Gesellschaft zogen, aus immer größer werdender Angst, aus wahrhaftiger Angst vor dem Tod bestand. Mein Opa erlebte den zweiten Weltkrieg. Er weiß, was Angst bedeutet und nichts zu haben. Meine Eltern erlebten den Kalten Krieg. Vielleicht kennen sie daher die Angst vor etwas, was man nicht greifen kann. Jetzt ist meine Genera-tion dran, zu lernen, was Angst und Unsicherheit bedeuten kann. Mama sagte mal, dass die Pandemie der Krieg meiner Generation sei … Vielleicht ist sie auch ein Weckruf. Eine Erinnerung, dass wir uns nicht darauf verlassen können, dass alles so bleibt wie es gestern noch war. Alles ist verän-derbar.‘ Ich legte den Kugelschreiber neben mein Notizbuch und klappte es zu. Ich schaute direkt in meine Augen, als ich den Kopf hob, um aus dem Fenster zu schauen. Es war dunkel geworden und ich spiegelte mich in meinem Fenster. Die Sonne war untergegangen und die Nacht brach ein. Stille.
Selbst die sonst recht stark befahrene Straße war still. Ich schaute auf die Uhr. Es war gerade einmal 19 Uhr. Norma-lerweise fuhren da noch einige Autos vorbei. Aber jetzt war es auch vor unserem Haus still. Manchmal wie eine Geisterstadt. Leer und still.
Mein Tablet leuchtete auf und begann, zu klingeln. Meine beste Freundin rief mich über Videochat an. Ich ging fröhlich dran: „Hello!“
„Naa, wie geht’s dir?“, fragte sie mich ebenfalls heiter. Ich entgegnete ihr: „Gut und dir? Was hast du denn heute so gemacht?“ Das Funkeln aus ihren Augen erlosch, als sie sagte, dass sie heute wieder nur zu Hause war, Netflix geschaut hat und mit dem Hund draußen war. Auf die Rückfrage antwortete ich, dass wir einkaufen waren und ich zum ersten Mal seit einer Woche wieder ein Jeans angezogen habe. Darüber musste wir beide lachen. Verrückt. Wir telefonier-ten noch eine halbe Stunde, aber es gab gar nicht viel zu erzählen, da wir einfach nicht viel erlebten. Wir waren ja die meiste Zeit zu Hause. Es war stiller zwischen uns.
„Abendessen ist fertig!“, ertönte Mamas Stimme von unten. Ich ging runter und setzte mich an den schon gedeckten Tisch. Mein kleiner Bruder grinste stolz und erklärte, dass er mitgeholfen hatte. Danach aßen wir recht schweigsam. Seit wir den ganzen Tag mehr oder weniger aufeinander hock-ten, hatten wir uns kaum noch was zu erzählen. Am Esstisch war es stiller.
Wir bekommen immer sofort mit, was der andere erlebt. Am Anfang war das toll, so viel Zeit mit der Familie zu ver-bringen, aber jetzt nach ein paar Monaten, sehnte man sich nach neuen Gesichtern. Nach neuen Erfahrungen und Erlebnissen. Nach neuen Geschichten.
Nach dem Essen wollten mein kleiner Bruder und ich gemeinsam einen Film schauen. Wir machten es uns auf dem Sofa gemütlich. Kuschelten uns in die flauschigen Wolldecken ein und schleckten ein Eis zum Nachtisch. Das war mittlerweile ein kleines Ritual geworden. Ich schaltete den Fernseher an und zappte durch alle Sender. Wir kannten alles schon oder hatten kein Interesse. Dann öffnete ich Net-flix, aber auch da hatten wir mittlerweile alles gesehen, was uns interessierte. Frustriert schaltete ich den Fernseher wie-der aus. Stille.
Wieder saß ich an meinem Schreibtisch vor dem Sprossenfenster und schaute in mein aufgeschlagenes Notizbuch. Ich begann, zu schreiben: ‚Ich bin so genervt von dem Lock-down. Wir machen jeden Tag nur das gleiche. Meine Freunde habe ich seit Monaten nicht gesehen. Papa gehört zur Risikogruppe, da muss die ganze Familie drauf Rücksicht nehmen, sagt Mama … Aber selbst zu Hause haben wir nichts mehr zu tun. Ich würde so gerne mal wieder zum Training, ins Kino oder mit meinen Freundinnen essen ge-hen … Es ist so frustrierend!‘ Ich seufzte. ‚Mama und Papa schauen Nachrichten. Wieder tausende Neuinfektionen und hunderte Tote. Neue Regelungen und Beschränkungen. Wer behält denn da noch den Überblick? Ich hätte nie erwartet, dass ein Virus das Leben auf der ganzen Welt so auf den Kopf stellen kann. Ein einziges Virus …
Menschen glauben, immer alles unter Kontrolle zu haben. Alles zu wissen und begreifen zu können. Dabei haben wir keine Kontrolle, erst recht nicht über die Natur. Sie ist stär-ker. Sie war vor uns da und wird auch nach uns bleiben. Sie wird uns weiterhin überrumpeln, sicher auch positiv überra-schen, uns klein und schwach fühlen lassen, aber auch groß und mächtig. Aber die Natur wird die Kontrolle behalten und nicht wir Menschen. Ich bin 19 Jahre alt. Ich sollte feiern gehen und die Zeit nach meinem Abitur genießen. Unbe-schwert reisen, tanzen, lachen und küssen. Unbeschwert leben. Das geht im Moment nicht. Das macht mich traurig. Viel trauriger macht mich jedoch, dass diese harte Realität für viele Menschen schon vor der Pandemie und auch nach der Pandemie Alltag war und sein wird. Menschen, die in ihren Rechten eingeschränkt sind, die nicht frei leben dür-fen. Menschen, die Angst haben, zu sterben, weil sie sehr krank sind oder in Regionen leben, wo Krieg herrscht. Die aus Angst ihre Heimat verlassen und dann in Camps eingesperrt werden, weil für sie angeblich sonst kein Platz ist. Diese Menschen sehen wir nicht, denn sie sind leise. So lei-se, dass sie im Alltag still sind.
Aber jetzt, wo wir still sein müssen, können wir ihr flüstern hören.‘ Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter. ‚Das war befreiend‘, dachte ich. Ich schloss die Augen. Da spürte ich es zum ersten Mal. Wie ein elektrischer Schock schoss es durch meinen Körper. Gänsehaut an meinem gan-zen Körper und eine innere wohlige Wärme, die durch mei-nen Körper zog. Meine Mundwinkel zuckten unkontrolliert nach oben. Ich grinste. Ich war so unendlich dankbar! Ich durfte die Pandemie hier erleben. In einem so privilegierten Land wie Deutschland. Sorgen, dass die Pandemie ein Dauerzustand wird, muss ich mir keine machen. Denn ich weiß genau, wenn das überstanden ist, stehen mir wieder alle Türen und Tore offen. Ich schrieb weiter, denn jetzt sprudel-te es nur so aus mir heraus: ‚Ich bin dankbar! Meine Familie ist gesund, satt und hat mehr, als wir eigentlich brauchen. Wir müssen nicht teilen, was wir nicht wollen. Wir dürfen tun und sagen, was wir wollen. Wir dürfen frei leben! So leben, wie wir es möchten. Ich habe alles. Danke Corona, dass ich das endlich sehen kann!‘ Hastig schlug ich das No-tizbuch zu und stürmte die Treppe herunter, zog ein Kartenspiel aus der Schublade, nahm Mamas Lieblings-CD aus dem Regal und legte sie in den CD-Player. Ich drehte die Musik so laut, dass mich jeder im Haus hören musste. Als ich mich am Esstisch niedergelassen hatte und begonnen hatte, die Karten zu mischen und auszuteilen, stand auch schon meine Familie im Esszimmer und schaute mich ver-dutzt an. „Spielen wir eine Runde?“, strahlte ich sie glücklich an. Mama erkannte die Musik und schmunzelte. Sie setzte sich neben mich an den Tisch und nickte. Auch mein Bruder strahlte und ließ sich auf seinem Platz nieder. Papa machte die Musik etwas leiser und setzte sich auch zu uns an den Tisch. Die Musik war jetzt leiser. Aber es war nicht mehr still!