Andrea Balnat - Eine Begegnung

Andrea Balnat, Esenshamm
Eine Begegnung


Auf der steilen Straße hoch über dem Fluss hatten die Bremsen versagt.

Ein Tritt ins Leere.
Panik.
Der Griff zur Handbremse und – Schuss – das Fahrrad hatte sich überschlagen.

Verdutzt saß der Junge und rieb sich die schmerzenden Knochen. Da gab es eine böse Schramme am Knie und am linken Schienbein. Sie blutete durch die Jeans.
Das würde Ärger geben.

Ärger.

Das Fahrrad.

Das gute Fahrrad, das er erst zu Ostern bekommen hatte.

„Pass auf dein neues Rad auf“, hatten sie gesagt.

Ein Schrecken durchfuhr ihn.

Das Fahrrad lag am Straßenrand.
Hatte ihn jemand beobachtet?
Ganz hinten den Flussradwanderweg entlang kam ein Radfahrer.
Er musste gegen den Wind und gegen den Regenschauer ankämpfen. Der war weit genug weg. Der hatte nichts gesehen.

Der Junge richtete sich auf.
Das Schienbein schmerzte unangenehm. Mit einem Seufzen ging er zum Fahrrad. Das in der Pfütze lag.
Ein bisschen lähmte ihn der Schrecken über das, was passiert war und die finstere Erwartung, was mit dem Fahrrad war.

„Pass auf dein neues Rad auf“, hatte Michael gesagt, der neue Mann seiner Mutter, zu dem er keine Meinung hatte, den er gefühlsmäßig auf Abstand hielt. Der hatte das Fahrrad bezahlt.

Er betrachtete das Rad.
Es hatte den Sturz scheinbar gut überstanden.
Er testete die Gänge.
Alles gut.
Erleichtert blickte er die Straße entlang. Es war etwas heller geworden. Der andere Radfahrer hatte sich erstaunlich schnell genähert. Beharrlich kämpfte er gegen Wind und Regen und die Steigung.
Der Junge versuchte die Bremsen.
Die Bremsen waren hin.
Sie steckten nicht in der Arretierung.
Ratlos setzte sich der Junge auf den Grenzstein. Am liebsten würde er gar nicht mehr aufstehen.
Ostern erst, Ostern hatte er das Rad bekommen.
Er blickte finster vor sich hin. Am besten ginge er nie mehr heim.
Dann stieg die Wut in ihm hoch.
Wenn er jetzt einfach das Rad die Böschung runterschmeißen würde.
Und noch nachtreten.
„Pass auf dein neues Fahrrad auf“, echote es wieder in seinem Gehirn.
Nachtreten.
Er spürte einen dumpfen Schmerz in der Brust.
Es war ein böser Schmerz.

„Was ist denn los?“
Der Junge erschrak. Hatte man mit ihm gesprochen?

Der Mann war von seinem Rad gestiegen. „Probleme mit dem Rad?“

Der Junge schaute auf. „Sprich nicht mit Fremden“, hatte ihn die Mutter verwarnt.
„Es sind die Bremsen“, antwortete er.
„Na, dann zeig mal her“, sagte der Mann.
Er war ein alter Mann.
Was, wenn der jetzt einfach mit dem neuen Rad verschwinden würde, ging es dem Jungen durch den Kopf, gleichzeitig erkennend, dass dieser Gedanke ein Blödsinn war.
„Schickes Rad. Die Bremsen sind rausgerutscht. Das machen neue Räder manchmal. Halt mal fest“, sagte der Mann, der das Fahrrad fachmännisch betrachtete.
„Ich bin nicht schuld?“, fragte der Junge unsicher.
„Quatsch“, sagte der alte Mann und suchte in seiner Satteltasche nach dem Inbusschlüssel. Mit sicheren Händen machte er sich an das Werk.
Es dauerte nur ein paar Minuten.

„So“, sagte der alte Mann, „jetzt funktionieren sie wieder.“
Er schaute den Jungen an.
„Echt?“, fragte dieser erleichtert. „Danke!“

„Wie heißt du?“, fragte ihn der alte Mann.
Der Junge schaute verlegen weg. „Malvin“, sagte er und schämte sich, weil er sich immer für seinen Namen schämte.
„Guter Name für Orchideen“, grinste der alte Mann.
„Hmm“, machte der Junge. „Ich finde meinen Namen doof.“
„Du kannst dich nennen, wie du willst“, sagte der alte Mann und streckte seine Hand aus.
„Ich heiße Fritz. Ich mag meinen Namen auch nicht besonders.“
Der Junge reichte dem alten Mann seine Hand.
Die beiden schauten sich ins Gesicht.
Ein Händedruck unter Männern.
Dann fuhr der alte Mann weiter.

Später lag der Junge in seinem Bett.
Das Schienbein unter der Kruste schmerzte.
Es war ein guter Schmerz.
Und während die graue Müdigkeit den Jungen sanft umfing, dachte er an den Nachmittag. „Fritz ...“, ging es ihm durch den Kopf. „Fritz. Das wäre ein cooler Name.“

Dann schlief er ein.

 

(aus der Regionalanthologie der 8. Berner Bücherwochen)