Angélique Schau - Der letzte Tag auf Erden

Angélique Schau
Der letzte Tag auf Erden

Der Wecker riss mich um 6.00 Uhr aus dem Bett. Draußen hörte man schon die Vögel und Stimmen der Menschen. Alle wussten es. Nur noch heute. Meine Freunde haben gestern schon ihre Sachen gepackt und sind zu ihren Liebsten gefahren. Nur ich blieb zu Hause. Ich wollte nicht zu meinen Eltern oder zu meinen Freunden. Ich wollte allein sein. Ich starrte die Decke an. War das alles? So sollte das Ende sein? Ich war doch noch so jung. Ich habe nicht viel erlebt. Ich stand mir zu oft selbst im Weg. Ich hätte viel mehr machen können. Tanzen, Feiern, Reisen, Lieben. Aber ich konnte es nicht mehr. Nur schwer konnte ich mein Bett verlassen. Ich machte mir mein Lieblingsessen. Zum Frühstück gab es Rührei, Toast mit Bacon. Zum Mittag gab es eine Nudel-Hack-Pfanne und zwischendurch dann ein Eis. Ich saß an meinem Tisch und aß. Die Bilder an der Wand von Freunden, Familie und meinen Hunden. Sie starrten mich an. Fast vorwurfsvoll, dass ich allein bin. Aber würde ich nicht auch allein sterben? Am Ende sind wir doch alle allein.
Mein Handy klingelte und der Name meiner Schwester stand auf dem Display. Ich ignorierte es. Im nächsten Moment schaltete ich mein Handy aus. Ich wollte mit niemandem reden. Die Zeit flog an mir vorbei. Ich zog mein Lieblingsoutfit an und nahm meine Tasche in die Hand. Ein letztes Mal sah ich meine Wohnung an. All die Bilder, Bücher, Erinnerung an eine längst vergangene Zeit. Und jemand wird sich jemals an mich erinnern. Alles von mir wird ausgelöscht werden. Hatte das Leben überhaupt einen Sinn? War es sinnvoll zu leben? Ich schloss das letzte Mal meine Haustür. Mein Auto, mein Fahrrad ließ ich stehen. Ich machte mich zu Fuß auf den Weg. Ich wusste genau, wohin ich wollte. Einen bestimmten Ort. Überall liefen die Menschen hektisch umher. Ich sah weinende Gesichter. Und zwischendurch welche mit leeren Blicken. Sie hatten abgeschlossen. Nichts konnte das Ende aufhalten. Jahrelang haben es Wissenschaftler, Menschen, Biologen und Astrologen versucht. Sie kamen immer nur auf ein Ergebnis. Der letzte Tag auf Erden. Kein Danach. Keine andere Welt. Keine Hoffnung. All die Jahre lebten die Menschen ihre letzten Stunden. Oder auch nicht. Es gab viele, die schon vorher gingen. Sie hatten zu große Angst vor dem Ende. Die Suizidrate stieg enorm, vor allem in den letzten Tagen.
Auch ich stand eines Tages vor einem Abgrund. Ich wusste nicht weiter. Doch im nächsten Moment war er da. Er stand plötzlich neben mir und redete mit mir. Ich fühlte mich nicht mehr allein. Er lächelte mich an. So ein schönes Lächeln hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Seine Stimme so weich und seine Art, wie er redete, berührte meine Seele. Und so schnell er neben mir stand, so schnell war er auch weg. Seitdem sah ich ihn nie wieder. Ich habe so oft Ausschau nach ihm gehalten. Bin an den Abgrund zurück, doch nie wieder sah ich ihn.
Der Weg kam mir länger vor als sonst, und als ich dort war, waren schon viele Menschen dort. Familien, Liebespaare, Freunde. Sie alle hatten sich versammelt. Ich lief weiter, um etwas allein zu sein. Ich zog meine Schuhe aus. Noch einmal das Gras zwischen meinen Zehen spüren. Der Wind wirbelte mir die Haare ins Gesicht. Ich genoss den Windzug. Was passiert nach dem Ende? Gibt es ein ‚Danach‘?
Plötzlich hörte man die Schreie der Menschen, alle schauten in eine Richtung und zeigten auf etwas. Dort war es. Der Himmel wurde in ein Rot-Orange gefärbt. Es kam schneller auf uns zu. Das ist es also. Das Ende. Panik machte sich breit. Ich war doch nicht bereit. Ich wollte noch nicht gehen. Ich schaute mich panisch um. Alle hatten sie jemanden, sie küssten sich oder lagen sich in den Armen. Ich war allein. Vollkommen allein. Ich konnte nichts mehr hören. Alles lief in Zeitlupe ab, und in einem Moment spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Langsam drehte ich mich um. Grau traf Grün. Da war er. Er lächelte mich an. Er legte seine Hand auf meine Wange, strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Panik war weg. Ich fühlte seine Wärme. Ich war nicht mehr allein. Er war hier bei mir. Ich nahm einen letzten Atemzug.