Barbe Maria Linke - Auszug - Eine Reisebeschreibung (in der Autorenkorrektur)

Barbe Maria Linke

Auszug

Eine Reisebeschreibung

Geest-Verlag 2020

Kappbroschur

 

„Sprechen, unzensiert schreiben können. Das ist es, was zählt.“
Zusammenfassung des Buches durch Barbe Maria Linke am Ende des Buches, Zusammenfassung eines eigenen Erlebens und Erinnerns auch eines eigenen Lebens zwischen zwei Staaten.
Im Mittelpunkt des Romans steht Mira Roth, die mit ihrem Mann Carl und ihren Kindern 1983 die DDR als Dissidentin nach Westberlin verlassen hat. Der politische Druck, die Unmenschlichkeit des Staates im Verhalten gegenüber seinen Kritikern ließen ihnen keine andere Möglichkeit.
Doch in einem Gespräch mit einem alliierten Beamten nach ihrer Ankunft in Westberlin bemerkt Mira, dass es nicht allein das politische System der DDR ist, das grundsätzliche Fragestellungen aufwirft: „Mira hält das Sitzen im stickigen Flur nicht aus, läuft hinaus, blinzelt in die Wintersonne. Bunte Prismen, Kreise, Dreiecke beginnen sich zu drehen. Immer neue Muster. Tag für Tag. Wie hätte sie sonst auch die Ausfragerei aushalten können, wenn sie sich nicht, wie aus dem Handgelenk, eine Welt erschaffen konnte, die es nirgends gibt. Auch nicht im Westen.“
Es bleibt die Sehnsucht, der Traum, den Exilanten und Ausgebürgerte aus allen Ländern träumen: Noch einmal zurückzufahren, dahin, wo das abgebrochene Leben spielte, in die Landschaft, zu Freunden und Weggefährten. „Mira schüttelt sich. Es ist, als klebe die Vergangenheit noch immer auf ihrer Haut, als sauge sie sich fest. Was tue ich hier? Wieso gebe ich den Erinnerungen so viel Raum?“
Am 7. September 1987 wurde der SED-Generalsekretär Erich Honecker mit allen protokollarischen Ehren eines Staatsbesuchers in Bonn von Bundeskanzler Helmut Kohl zu einem Arbeitsbesuch empfangen.
Mira, die Protagonistin des Romans, erhält tatsächlich im Zeitraum der Entspannung zwischen der BRD und der DDR ein Visum für die Leipziger Herbst-Messe. Die Leipziger Messe ist unter Ausgewiesenen die einzige Möglichkeit, wieder in die DDR einzureisen.
Mit einem Mal steht Mira Roth vor dem Berliner Dom, in dem sie als Studentin Hebräisch lernte. Ein Panorama jener Jahre wird sichtbar, eine obsolete, bunte Welt.
„Wohin bin ich unterwegs?“, fragt Mira, obwohl es eigentlich auch ihr deutlich ist. Sie will ihre Freunde Laure und Paul besuchen, und sich vergewissern, hier hab ich einmal gelebt, hier haben wir für eine humane Gesellschaftsordnung gestritten und gekämpft.
Und mit der Wiederbegegnung kommt der Roman zu seinem eigentlichen Thema: Die Intensität einer Freundschaft zwischen zwei Paaren ist das zentrale Thema dieses Buches. Der Versuch, sich trotz Grenze und Besuchsverbot zu begegnen, Freundschaft zu leben.
Scheitert der Versuch oder hält die menschliche, humane Zuneigung die Ferne, die Trennung aus?
„Mira blickt zu Laure hinüber. Wieso schweige ich, obwohl ihr mich fragt, wissen möchtet, wie es in der anderen Welt ist? Was verschließt mir den Mund? Mein kompliziertes Innenleben, mit dem ich euch nicht konfrontieren möchte, könnte ich antworten. Vor dem ich oft genug zurückschrecke. Und doch möchte ich reden, auch von mir. Aber wie, und vor allem wann? Freundschaft, nackt und bloß! Konntest du wirklich so leben, Bettina? Was würde die Dichterin heute antworten? Aber genau das könnte ich Paul fragen, der über Bettina von Arnim einen Film machen möchte.“
Dieser kleine Ausschnitt zeigt die ganze Tiefe der Handlungsebenen dieses Romans. Wie ist es, fremd im eigenen Land zu sein? Wie kann ich Freundschaft leben, wenn unüberwindbare Grenzen es verhindern wollen?
Eine Reisebeschreibung besonderer Art, äußere und innere Landschaften. Ein Roman, von dem kein Leser unberührt bleiben wird, ein Roman von bedrückender Aktualität, mit sprachlicher Brillanz verfasst, der in seiner formalen Experimentier-freude der Vielschichtigkeit des inhaltlichen Ansatzes entspricht.