Begeisternde Lesung von Christl Schmidt-Hollander im Cafe Rosenrot in Stemshorn am gestrigen Abend

 Trotz einer Grippe hatte es sich die Autorin Christl Schmidt-Hollander gestern nicht nehmen lasse, im Café Rosenrot in Stemshorn ihre Lesung aus ihrem Roman 'Sechs mal zehn' durchzuführen. Eine Lesung in einem wunderschönen Ambiente, die den Besuchern, wie die anschließende lebhafte Diskussion und der erfolgreiche Buchverkauf zeigte, sehr gefallen hat.

 

Christl Schmidt-Holländer
Sechs mal zehn.
Ein Leben findet statt.
Geest-Verlag: Vechta-Langförden, 2006
ISBN 978-3-86685-025-5
12,50 Euro

 

60 Geschichten aus 60 Jahren Lebensentwicklung. Lustvolle und auch
bedrängende Erinnerungen an fast Vergessenes, die sich mit
nachdenklichen Betrachtungen der gereiften Persönlichkeit vermischen.
Weit mehr als eine Biographie wird hier vorgelegt. Es geht um die
Persönlichkeitsentwicklung einer Frau, die in der kleinbürgerlichen
Enge und zugleich Vertrautheit Wuppertals in den Jahren des
Nationalsozialismus als Einzelkind aufwächst. Die in der Kindheit und
Jugend erworbenen Einstellungen und Verhaltensweisen begleiten sie ihr
ganzes bewegtes Leben lang. Durch alle Phasen der gesellschaftlichen
und auch privaten Entwicklung von 1933-1993 ziehen sich die Grundzüge
der individuellen Prägung wie ein roter Faden. Das Ringen um
Anerkennung, das zugleich die Angst vor der Ablehnung beinhaltet, die
Bereitschaft zur Anpassung, die aber ab einem bestimmten Zeitpunkt
immer wieder auch hinterfragt wird vom Verlangen nach individueller
Freiheit. Manche Leserin wird sich in den Gedankengängen der Titelfigur
wiederfinden. Der Leser wird vielleicht rückblickend weibliches
Verhalten besser oder doch zumindest anders verstehen.
So entstand
neben einem begeisternden Roman, den man nicht mehr aus der Hand legen
will, eine wichtige und zugleich andere Form von Zeitgeschichte.

 


Leseprobe

Wenn Christina versucht, sich an ihr Geburtsjahr zu erinnern, dann
muss sie Fotos zu Hilfe nehmen. Natürlich Fotos, was sonst? Und auch
die Erzählungen ihrer Mutter und Großmutter müssen helfen, wenn sie den
Weg zurückverfolgen will in ihre erste Zeit. Das ist ein notwendiger
Weg, ein anstrengender Weg - meint sie, und sie scheut immer wieder
davor zurück, ihn zu gehen. Die ersten Schritte zu wagen. Sie fürchtet
mit Recht, dass sie dann weitergehen muss, immer weiter, immer mehr
Schritte tun muss auf der Suche nach ihrem gelebten Leben. -
Aber
eines Tages geht es nicht mehr, da kann sie sich nicht länger davor
drücken, auf ihre Anfänge zu sehen, Ausschau zu halten nach den
Menschen, die ihr zum Leben verhalfen, ihr ein Leben ermöglichten und
es bestimmten, bis lange in ihre Jetztzeit hinein. Ja, ihr Jetzt ist
nach wie vor verbunden mit dem Damals.

Das kleine Foto zeigt ein etwas mickriges Geschöpf. Eigentlich kann
man nur ahnen, dass dies ein Kind sein soll. Christina sieht sich
nicht, sie sieht weiße Tücher, die um einen winzigen Säugling gelegt
sind. Und es scheint, als käme es auf diesen Säugling auch gar nicht
an. Wichtig auf dem Foto ist die Frau, die ihn hält, die das Kind vor
kurzer Zeit erst geboren hat und gewiss herzlich und mit Besonderheit
liebt. Wie wohl alle Mütter ihre Kinder lieben, nachdem sie sich aus
dem Körper befreit haben, der sie lange trug, nährte und ertrug. "Meine
Mutter liebte mich ganz sicher sehr. Und nicht nur, weil ich jetzt
außerhalb ihres Körpers war und ihr als eine Tochter in den Arm gelegt
wurde. Sie liebte mich gewiss auch als die Lebensaufgabe, die sie durch
mich gestellt bekam. Ein Kind großziehen, einen Menschen werden und
wachsen sehen und daran Anteil haben in Freude und Pflicht! Ja, das ist
doch das Ereignis ihres Lebens gewesen. Oder nicht?" -
Christina
dreht bei diesen Gedanken das kleine Bild mit dem gezackten Rand in den
Fingern, wie sie es schon oft getan hat. Sie hat dieses erste Foto von
sich eines Tages aus dem Familienalbum genommen, um es immer wieder
einmal getrennt von den anderen Bildern ansehen zu können. Da ist etwas
Auffälliges. Als junges Mädchen hat sie sich gewundert, heute kann sie
die Besonderheit formulieren. Sie kann aussprechen, was eigentlich
immer schon als Frage da war: "Warum sieht meine Mutter so alt und so
unglücklich aus, derart verkrampft und distanziert? Sie liebt mich
doch. Sie hat mich gewollt, ganz nach Plan im dritten Ehejahr bin ich
gekommen, um die kleinbürgerliche Idylle perfekt zu machen. Warum sehe
ich ihr diese Liebe nicht an? Diese Frau da auf dem Schwarzweißfoto hat
Angst. Wovor hat sie Angst? Vor wem fürchtet sie sich? Vor dem Kind?
Vor mir?" -
Die Zeiten waren unruhig. Christina kennt die
Geschichten. Sie wurden immer wieder erzählt. Während der
Schwangerschaft der Mutter - es muss eine einigermaßen beschwerdefreie
Zeit für die 33jährige Frau gewesen sein - hatte es Straßenkämpfe im
Viertel zwischen den Nazis und den Kommunisten gegeben. Es wurde
geschossen in der Straße an der Wupper. Farbmühle hieß die kurze
Straße, in der schon der Vater großgeworden war und in dessen
Kindheitswohnung die jungen Eheleute zogen, mit den Möbeln der Eltern,
der Frühverstorbenen. Es war wenig Geld da, der Vater konnte nur an
drei Tagen in der Woche zur Arbeit gehen. Kurzarbeit nannte es die
Mutter, wenn sie von dieser Zeit erzählte, und die kleine Christina
fand das gar nicht schlimm. Schön ist es doch, wenn der Mann nicht
täglich zur Arbeit muss, wenn er bei seiner Frau bleiben kann; denn die
war schließlich den ganzen Tag allein und musste sich schrecklich
langweilen. ‚Dummes Kind! Du verstehst überhaupt nichts. Wenn der Vater
nicht arbeitet, verdient er auch kein Geld. Ohne Geld ist das Leben
schrecklich, nichts kann man kaufen!' ‚Ach so, ja.' Christina versucht
zu verstehen. Sieht die Mutter darum so alt und freudlos aus?
Obwohl in diesen weißen Tüchern auf dem Foto ein kleines, gesundes Kind
liegt, obwohl da Christina liegt, die leben, wachsen, groß werden will
und dazu die Liebe und die Freude der Mutter braucht?