Birgit Kattelmann auf Lesereise im Raum Trier / Neuauflage des weißen Bären

Seit Anfang der Woche ist Birgit Kattelmann im Raum Trier auf Lesereise. Wie sie in einem Telefongespräch berichtete, läuft auch diese Lesereise wieder einmal mit großem Erfolg. Fast 20 Lesungen an Grundschulen und weiterführenden Schulen, bei denen sie die verschiedenen LeseTheater-Programm präsentiert, erfahren eine äußerst positive Resonanz.

In der Zwischenzeit steuert ihr Buch, 'Das Reich des weißen Bären', im Verlag einer überarbeiteten  Neuauflage entgegen.

Birgit Kattelmann
Im Reich des weißen Bären
ISBN 3-937844-09-0
276 Seiten
11.00 Euro

In diesem Jahr entwickelt sich der Winter mit einer ungeheuren Kraft.
Jeremy deckt auf, dass das Frühlingsland droht, vernichtet zu werden.
Er muss seine Angst überwinden und Freunde finden, denn nur er kann den
Kampf gegen den weißen Bären aufnehmen, den Herrscher des Winterlandes.

Ein Buch voller Poesie, in dem es der Autorin gelingt, Phantasie
und Realität übergangslos zu verknüpfen und die Phantasie in der Welt
des Lesers zu wecken. Ein Buch für den jugendlichen und auch
erwachsenen Leser.

Lesprobe:
Nashree

Jeremy glaubte, ertrinken zu müssen, als ihn im selben Moment eine
mächtige Welle an Land warf, zurück in die Helligkeit und die Geräusche
der Welt. Er rang nach Luft und hustete, mit rasendem Puls und erst
jetzt in Todesangst.
Viel später öffnete er die Augen. Das Schloss
war nirgendwo zu sehen. Er lag am Ufer eines bewegten Sees, in dessen
Mitte eine Wasserfontäne aufstieg. Es erinnerte ihn an etwas, aber ein
würgender Husten zerriss seine Aufmerksamkeit.
Um ein Haar wäre er in diesem Strudel aus Wasser und Eis ertrunken, in
dem sich das Reich des weißen Bären auflöste. Wo war er jetzt? Und wo
war sein Stab, mit dem er die Königin vom Frühlingsland wecken sollte?
In seinem Kampf gegen das Ertrinken musste er ihn losgelassen haben,
aber auch für den Stab gab es nur einen Weg durch den Höllenschlund.
Wenn er nicht verkantet an einem Felsstück hängen geblieben war, musste
auch er in diesem See wieder auftauchen. Die Kraft der Fontäne würde
ihn dem Ufer entgegentreiben.
Sie entsprang aus einem marmornen Rund und obwohl der See längst über
die steinerne Einfassung seiner Ufer getreten war, erkannte Jeremy ihn
endlich.
Es war der See aus seinem Traum vom Frühlingsland. Die Fontäne sprühte
feinen Regen über die Oberfläche des klaren Wassers, in dem goldene
Fische schwammen. Sie stießen neugierig gegen etwas, das auf den Wellen
tanzte, etwas Silbernes. Mit einem Schrei der Erleichterung lief Jeremy
hinein und fischte den Stab auf. Seine Kraft hatte im kalten Wasser
abgenommen, es war kaum noch Wärme in ihm. Wenn es ausreichen sollte,
um die Frühlingskönigin damit aufzuwecken, musste er sie nun schnell
finden. Ohne zu verweilen oder sich auch nur um seine nasse Kleidung zu
kümmern, marschierte er am Flussufer entlang ins Frühlingsland hinein.
Es war derselbe trostlose Ort wie in seinem Traum, wenn auch das Eis
auf den Beeten, wo der Fluss das Land berührte, allmählich taute. Aber
die Pflanzen darunter würden nicht keimen und wachsen, bis die
Frühlingskönigin erwacht war. Wohin musste er nur gehen, um sie zu
finden? Er versuchte sich zu erinnern, irgend jemand hatte es gesagt -
zu dieser Regenbogenzitadelle, was immer das sein mochte. Wenn er sich
nicht irrte, war von einem Garten die Rede gewesen. Das half ihm nicht
weiter, er würde einen Garten in dieser Trostlosigkeit nicht einmal vom
restlichen Frühlingsland unterscheiden können.
Die Winde hatten sich gelegt, aber dichte Wolken verbargen noch immer
die Sonne. Bleigrau eilte der Fluss der Jahreszeiten neben Jeremys Weg
dahin, bis an den Rand mit Tauwasser gefüllt.
Sobald die Kristalle im Eisblauen Schloss zerschmolzen waren, würde
kein warmes Wasser mehr ins Frühlingsland strömen, Jeremy hielt es für
möglich, dass der Fluss dann von Neuem gefrieren würde. Vielleicht
erholte sich sogar der König.
Nur eine neuer Frühling konnte den Winter endgültig besiegen. Nur Nashree, die Frühlingskönigin, konnte sie retten.
Aus der Luft würden die Chancen, sie zu finden, ein wenig besser sein.
Er suchte die Erinnerung an Freude und Leichtigkeit in sich, sprang
hoch und breitete seine Flügel aus. Mit dem Stab in seinen Beinchen
flog er ins Innere des stummen Landes, das so grau war wie in seinem
Traum. Es brachte ihn ständig in Gefahr abzustürzen, weil sein Herz
schwer wurde beim Anblick der toten Pflanzen.
"Jeremy!"
Sein Herz machte einen Salto. Unsanft fiel er auf die Nase. Konnte das möglich sein?
"Jeremy! Wo bist du? Ich bin's, Paula!"
Jetzt sah er am Horizont einen roten Farbklecks. Die Jacke vom
Kinderheim Morgenlicht, die gleiche, die auch er trug. Darüber hingen
dunkle Zöpfe. "Paula! Hier bin ich!" Er vergaß, dass er fliegen konnte
und rannte ihr entgegen, so schnell seine Beine ihn trugen.
Schweratmend blieben sie voreinander stehen.
"Ich habe ihn gefunden", sagte Paula strahlend. "Ich habe den Eingang gefunden, Jeremy. Wo ist Opa Felix?"
"Im Winterland. Es hängt von mir ab, Paula. Ich muss Nashree finden."
"Hast du das noch immer nicht getan? Was machst du denn bloß so lange hier?"
Jeremy wusste nur eine ausgesprochen komplizierte Geschichte, aber
keine kurze Antwort. "Komm", sagte er einfach. "Wie müssen einen Turm
suchen, er heißt Regenbogenzitadelle."
"Ist Nashree dort drin?"
Jeremy nickte.
"Ich habe auf dem Weg einen Turm gesehen. Aber es kann nicht diese Zitadelle sein, er ist ganz grau."
"Lass uns trotzdem nachschauen."
Paula führte ihn über die verschlungenen Wege des Frühlingslandes, die
er allein wohl niemals gefunden hätte, bis vor die Tore des Turmes.
Das konnte wirklich nicht die Regenbogenzitadelle sein, dachte er und
schaute an den tristen Mauern hoch. "Maylee sagt, es ist ein Zauberturm
ohne Treppe", erklärte er. "Aber wenn Nashree dort ist, werde ich es
wohl irgendwie nach oben schaffen."
"Ob sie schläft?", wisperte Paula.
"Ich werde es herausfinden!"
"Jeremy! Sei vorsichtig!"
"Keine Angst!", lachte er, obwohl ihm ziemlich mulmig war. Er trat ein.
Lautlos schloss sich die Tür hinter ihm. Es war dunkel. Pechfinster.
Als habe die Welt aufgehört zu existieren. Jeremy widerstand nur mühsam
der Versuchung hinauszulaufen, zu fliehen, solange er noch eine
Vorstellung davon hatte, wo der Ausgang sich befand.
Dass er blieb, war weniger Tapferkeit als vielmehr Angst - die Angst
des viel kleineren Jungen, der Jeremy einmal gewesen war, vor den
Monstern der eigenen Fantasie, die einen im Dunkeln ansprangen, wenn
man es riskierte, ihnen den Rücken zuzuwenden. Er stand wie gelähmt,
machte kein Geräusch und keine Bewegung und horchte in die Finsternis.
Mit der Zeit gewöhnten sich seine schneeüberreizten Augen an die
Dunkelheit. Er fand neue Orientierungspunkte.
Rote, fremdartige Lichter in einem rätselvollen, schwarzen Himmel
hingen über ihm, doch als er sich ihnen zuwandte, verlor er endgültig
die Orientierung zur Tür. Er schaute und schaute, immer mehr dieser
leuchtenden Punkte entdeckte er, wie man an Sommerabenden immer mehr
Sterne aufglühen sieht, als müsste ihr Licht erst den Himmel
durchdringen, bevor ein Auge sie wahrnehmen kann. Er stand mitten
zwischen ihnen und war verwirrt von ihrem fremdartigen Aussehen und
ihrer seltsamen Anordnung, in der er zunächst kein Muster entdecken
konnte. Er konnte nicht einmal sehen, wie hoch dieser Turm war,
vielleicht unendlich, vielleicht aber war direkt über ihm eine schwarze
Decke, die sich bei dem kleinsten Heben seines Kopfes wie eine Glocke
über ihn stülpen würde. Schon lange hatte er nicht mehr diese Furcht
aus Kleinkindertagen empfunden, nun stürzte sie wieder auf ihn ein. Er
machte unwillkürlich einen ausweichenden Schritt zur Seite. Die roten
Splitter, denn es waren nicht wirklich Sterne, das sah er jetzt,
schienen sich umzugruppieren. In dem Rot erkannte er plötzlich die
Gestalt des Drachen, der ihn in frühen Träumen so erschreckt hatte.
Sein hellster Punkt war ein einziges leuchtendes Auge, das andere
fehlte. Jeremy nahm allen Mut zusammen und ging näher heran. Vor seinen
Füßen lag ein roter Splitter. Er hob ihn auf und setzte das
heruntergefallene Auge in das Drachenbild ein. Jetzt schienen die roten
Splitter nichts anderes mehr als eine Art von Trittsteinen zu sein,
durch die er nach oben gelangen konnte. Er stieg empor und fragte sich
verwundert, wie er jemals diese leuchtenden Steine für den Drachen
seiner Alpträume hatte halten können. Während er stieg, veränderten
sich die Farben, bei jedem Schritt gruppierte sich das Muster um. Bald
schwebte eine viel verwirrendere Vielfalt als vorher um ihn herum, zu
den roten waren orange leuchtende Teilchen gekommen. Jeremy stand auf
dem höchsten Trittstein, auf dem sein gewählter Weg über den Drachen
sein Ende gefunden hatte. Aus dieser Perspektive sah er eine neue Welt
um sich herum. Immerhin war es ein wenig heller geworden. Er konnte
seinen eigenen Körper wieder sehen. Sein reales Vorhandensein in dieser
seltsamen Welt beruhigte ihn ein wenig.
Das Rot und Gelb der Splitter fügte sich übereinander und untereinander
zu immer neuen Mustern, wenn er sich bewegte. Da begann er es zu ahnen:
er versuchte auf den Glasteilchen eines riesigen Kaleidoskops zu
klettern!
"Das kann ich auch ohne so viele Umstände tun!", sagte er wütend.
Ungeduldig griff nach einem der schwebenden Farbteilchen, um sich daran
hochzuziehen. Aber kaum hatte er sich bewegt, veränderte die
Erschütterung - wie bei einem richtigen Kaleidoskop - das Muster.
"Wie soll ich es auf diese Weise jemals bis zu Nashree schaffen?",
brüllte er durch den Turm. Es ging alles so langsam, diese albernen
Muster waren doch unnötig! Jeremy drehte sich um, er hatte keine Lust
zu diesem Spiel, er wusste nicht, wer da mit ihm spielte und fühlte
sich zum Narren gehalten.
Was er hier tat, hatte doch nichts mit Nashree zu tun! Aber ihm blieb
keine Wahl. Nicht, wenn er sie wirklich retten wollte. Er schaute noch
einmal das Mosaik an. Rot und Orange, es erinnerte ihn an das Schild
vor dem Kinderheim ... Nein, nicht nur an das Schild. Es war die ganze
Fassade, wie sie abends im Lampenlicht lag. Als er das zweifelsfrei
erkannt hatte, bemerkte er, dass das Fenster der Küche - ausgerechnet
das Fenster der Küche von Opa Felix - in dem Bild fehlte. Suchend
schaute Jeremy sich um. Und wirklich fand er auch dieses Mal einen
Splitter, einen leuchtend gelben, den er in das Mosaik einfügte. Jetzt
sah es aus, als sei das Fenster strahlend hell erleuchtet. Jeremy
tippte vorsichtig einen der Trittsteine an - sie bewegten sich nun
nicht mehr, anscheinend hatte der gelbe Splitter das Muster im
Kaleidoskop für eine Weile verkeilt, und er kletterte auf den Splittern
empor, bis sie sich von Neuem zu bewegen begannen und weitere hinzu
kamen. Ein anderes Muster, komplizierter als das zweite, mit gelben und
grünen Teilchen inmitten der roten und orangen gruppierte sich um
Jeremy herum. Er war so vollauf damit beschäftigt, die immer neuen
Muster zu entziffern, ihnen das fehlende Teil hinzuzufügen und darauf
dem nächsten Mosaik entgegenzusteigen, dass er es beinahe nicht
bemerkte: Automatisch hatte er nach dem fehlenden Teil zu seinen Füßen
gegriffen, aber dessen Farbe passte nicht recht in das Bild, zu dem
sich die Steinchen zusammengefügt hatten.
Denn er hielt ein goldenes Samenkorn in der Hand, und was er für den
fehlenden Blütenkelch in der Mitte des regenbogenfarbenen Blumenmosaiks
gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine Tür, die hinausführte auf das
Plateau des Turmes. Das Samenkorn sorgsam in seine Faust
eingeschlossen, trat er hindurch.
Sofort versanken seine Füße im Schnee. Ein Haufen verfaulter Pflanzen
lag wie ein kleiner Hügel darunter. "Hier hätte mal einer aufräumen
können", sagte Jeremy mürrisch.
Er stand am Fuß eines Windrades, das einen Pflanzenstiel hatte und
Flügel aus verwelkten und erfrorenen Blütenblättern. Sie waren
durchnässt vom Tauwasser, windzerzaust und unansehnlich miteinander
verklebt.
Auf dem Boden davor, mitten im Schnee, stand eine goldene Schale. Kein
Flöckchen lag auf der dunklen Erde, mit der sie gefüllt war. Jeremy
bettete das Samenkorn sorgfältig hinein und strich die Mulde mit einem
Finger behutsam glatt.
Die Wärme des Stabes war fast verbraucht. Wenn es ein Fehler sein
würde, den Rest davon dem Samenkorn zu geben, hatte er keine
Möglichkeit, ihn noch einmal zu korrigieren. Er mochte gar nicht daran
denken. Aber wenn er sich nicht entschied, würde die Glut sterben, ohne
dass er sie überhaupt genutzt hatte. Entschlossen hielt er die sacht
glimmende Spitze an die Schale. Sie leuchtete ein letztes Mal auf, dann
verlosch sie. Der Stab war nun grau und kalt.
"Komm schon", murmelte Jeremy verzweifelt. Aber die Erde in der goldenen Schale lag unverändert da.
"Paula, es reicht nicht!", schrie er verzweifelt. "Ich kann den Winter allein nicht besiegen! Was soll ich tun?"
"Warte, ich komme zu dir."
Er wollte sie warnen. Dieses Mosaik war viel zu gefährlich für sie,
außerdem gehörte sie doch zum Sommerland! Bestimmt durfte sie gar nicht
in diesen Turm gehen!
Doch bevor er etwas sagen konnte, hörte er schon das Schließen der Tore. Paula war im Turm gefangen.
"Das kann sie doch gar nicht", sagte er laut zu sich selbst. " Das kann sie nicht schaffen. Wenn nun dieser Drachen..."
Er eilte zu den Toren im Windrad, durch die er gekommen war. Sie ließen
sich nicht öffnen, vergeblich rüttelte er an den goldenen Knäufen.
Endlos langsam verging die Zeit. Jeremy glaubte vor Sorge verrückt zu
werden, jetzt konnte er sich ungefähr vorstellen, wie es Maylee und
Felix im Kerker ergangen sein musste. Abwechselnd lief er zum
Turmausgang und wieder zurück zur Schale, blickte hinein, schaute auf
die verschlossene Tür und hastete zum Rand des Plateaus, um hinunter
zur Eingangstür zu sehen.
"Hier bin ich!"
Paula stand vor ihm. Ihre Augen strahlten.
"Gott sei Dank!", entfuhr es Jeremy. "War es schlimm? Hättest du doch
gewartet! Ich hätte dir sagen können, was du tun musstest in dem Turm!
Es war doch viel zu gefährlich für dich!"
Paula lächelte. "Jeremy, hast du es nicht bemerkt? Es ist wie dein
eigenes Leben: du kommst auf die Welt und musst all diese Muster
entziffern, bis du sie verstanden hast. Vorher kannst du nicht zum
nächsten gehen. Du hättest mir deshalb gar nichts darüber sagen können,
verstehst du?"
Schon wieder fiel Jeremy keine Antwort ein. Er zuckte die Schultern.
Aber Paula beachtete ihn gar nicht, sie hatte sich auf den Boden
gehockt. "Was ist denn das!", sagte sie mit dieser sanften Stimme, die
sie sonst nur bekam, wenn sie zu ihrer Puppe sprach. Fürsorglich legte
sie ihre Händchen um das winzige Blatt der keimenden Pflanze und begann
zu singen. Ganz leise. Ein kleiner Südwind säuselte, fuhr ihr durch die
Haare, sprang auf und nahm ihr Lied mit in das ganze Frühlingsland.
Jeremy wagte kaum, ein Geräusch zu machen. Ganz leise hockte er sich
neben sie und schaute atemlos, was geschah.
Goldenes Licht strahlte weich zwischen ihren Fingern hervor und sie
sang immer noch. Frischgrüne Blättchen entfalteten sich und schmiegten
sich an Paulas Hände. Jeremy kannte die Melodie nicht, aber er wusste,
dass es Paulas' Lied war.
Überall auf dem Plateau keimten nun Rosenpflänzchen. Sie wuchsen
schnell und waren schon überladen mit Knospen. Aber aus dem goldenen
Samen entstand eine leuchtende Blüte und bahnte sich ihren Weg ins
Licht, wurde kräftiger und größer, verließ den Schutz ihrer Hände. Es
schien, als klinge das ganze Frühlingsland von ihrem Lied wieder,
obwohl Jeremy sie kaum hören konnte.
Die goldene Knospe entfaltete sich.
Ein kleines Händchen griff aus dem Blütenkelch. Ein mandelweißer Arm hob sich anmutig.
In einem Palast aus Gold hatte sie auf goldenen Kissen aus
Blütenblättern geruht. Jeremy sah, wie sie sich streckte. Sie
schüttelte das schimmernde Haar, Sonnenstäubchen tanzten funkelnd zu
Boden, schmolzen ein bisschen Grün in die Decke aus Schnee. Ihre
goldenen Schmetterlingsflügel fächelten ihn beiseite.
Als das elfengleiche Wesen aus seiner Blütenwiege stieg, streuten die
Rosen ihre bunten Blätter auf seinen Weg. Die zarten Füßchen setzten
sacht darüber. Kleine Abdrücke blieben zurück wie Elfenspuren.
Am Fuß des Windrades drehte sich das goldene Wesen zum ersten Mal nach
ihnen um. Sie war gewachsen, während sie schritt, beinahe hatte sie nun
die Größe von Paula erreicht.
Aber Jeremy sah nur ihre goldenen Augen.
"Königin Nashree", wisperte er. "Ihr seid die Königin vom Frühlingsland!"
"Ich bin der Sonnenstrahl auf einer Rose und der Gesang der Freude im
Wind, ich bin der Duft des Honigs in euren Träumen und die Hoffnung in
den Herzen. Ich bin Nashree."
Sie drehte sich um und hauchte das Windrad an. Man konnte zuschauen,
wie die Farben zurückkehrten und die Windschaufeln neue Knospen bekamen.
"Endlich haben wir Euch gefunden, Königin Nashree." Jeremy lächelte glücklich.
"Beinahe hätte der Winter mich vernichtet. Ihr habt unserem Land das
Leben zurückgebracht. Wer seid ihr, meine Retter? Ihr seht sehr jung
aus. Aber du hast den Ausdruck eines Schmetterlingsjungen in deinen
Augen."
"Wir ... wir sind ... nichts besonderes, nur ... Kinder!", stammelte Jeremy.
Nashree lachte hell. "Nur Kinder? Aber es ist eine Auszeichnung, ein Kind zu sein!"
Sie schaute ihr Windrad an, das zu blühen begonnen hatte.
Ihr Gewand schien aus Licht und Sonnenstrahlen gewoben und duftete wirklich wie frischer Honig.
Nur der betörende Duft der erblühenden Lilienkegel überflügelte es.
Nashree drehte sie mit leichter Hand dem Südwind entgegen. Ein zarter
Ton wie von einer Panflöte schwang durch die Luft, als der Wind über
ihre Blütenkelche strich.
Er wehte den Schnee vom Turm hinab und trieb ihn als Regentröpfchen
fort. Jeremy blickte über das ganze Frühlingsland, doch die Blumen auf
dem Plateau des Turmes schienen der einzige Farbtupfer zu sein, der auf
der Welt nach diesem Winter übrig geblieben war.

Nashree sah Paula an und lächelte. "Ich danke dir für das
Sommerlied, kleines Sonnenkind. Es hat beide Länder gerettet, deines
und unseres. Aber nun ist es endlich Zeit für das Lied des Frühlings.
Nun hört!"
Ihre Stimme war so klar wie ein Bergsee und so hell wie
die Sonne. Das Frühlingsland lauschte. Der Südwind begleitete sie
leise, bald sang er die zweite Stimme. Die Bäche erwachten. Das Murmeln
ihrer plätschernden Wasser über junges Grün fiel in den Gesang ein. Die
Windlilien begannen sich zu drehen. Schmetterlinge in allen Farben
flogen heraus, immer mehr. Sie verteilten sich über das ganze
Frühlingsland und entzündeten es mit ihren Farben. Überall begann es zu
wachsen und zu blühen.
"Wollt ihr die Tore der Regenbogenzitadelle öffnen?"
Sie nickten gleichzeitig, nahmen jeder einen Türflügel und schwangen ihn auf.
Etwas flog hinaus ... Vögel mit bunten Schwingen stiegen jubilierend in die Lüfte auf.
"Sind - sind da drin unsere Herzen oder so was?", fragte Jeremy
schüchtern Nashree, denn er hatte in Büchern gelesen, dass Herzen
zuweilen ihren Besitzer verließen oder ihnen genommen wurden. Wie sonst
hätte dieses Kaleidoskop all diese Bilder aus seinem und Paulas Leben
formen können?
"Nein", sagte Nashree. "Die Regenbogenzitadelle ist der Platz, von dem
deine Träume kommen. Die bunten Splitter sind die Scherben deiner
zerbrochenen Träume."
So viele zerbrochene Träume sollte er haben?
"Und ... und der..." - ob Nashree von dem Drachen wusste? Er beschloss, es zu fragen - "...der Drachen?"
Nashree war jetzt doppelt so groß wie Paula und Jeremy. Sie hockte sich vor ihn.
"Er ist ein Alptraum von dir, nicht wahr?"
Jeremys Herz klopfte in seiner Kehle, er konnte nichts sagen. Er nickte schnell.
"Ich werde dir ein Geheimnis anvertrauen, Jeremy. Immer, wenn ein Traum
im Herzen zerbricht, zersplittert er in der Regenbogenzitadelle zu
Scherben. Sie setzen sich zu anderen, neuen Dingen zusammen, es ist
Magie. Sie können zu neuen, bunten Träumen werden, aber wenn man Furcht
vor ihnen hat und sich nicht um sie kümmert, dann werden sie zu
Alpträumen."
"Und wenn sie schon längst entstanden sind, die Alpträume?", fragte Jeremy leise.
"Du hast die Antwort ja schon, Jeremy. Du hast das Richtige getan: du
musst sie nur anschauen. Dann werden sie zu Stufen zurück ins Licht."
Paula nickte ernst. Nashree schaute zu ihr herüber, berührte mit ihrem Finger Paulas Wange, und beide lächelten plötzlich.
"Da!" Aufgeregt deutete Jeremy zum Horizont. "Das sind doch Blitze! Ist das immer noch das Winterreich?"
Nashree lachte. "Könnt ihr fliegen?"
Jeremy nickte strahlend. Er war niemals so sicher gewesen fliegen zu können wie in diesem Moment.
"Nein", sagte Paula.
"Ich schulde dir mehr Dank, als ich jemals sagen kann, kleine Paula."
Nashree berührte sie mit einem Finger. Jeremy hörte ihren Jubelschrei
in seinem Kopf, da warf auch er sich in die Luft und flog Nashree und
Paula hinterher.
Der Südwind schob die Wolken beiseite und trug die drei Schmetterlinge
auf seinen Händen durch ein Land voller Sonnenschein. Jeremy nahm den
Duft der Blüten und die Wärme des Windes so deutlich wahr, als spüre er
sie zum ersten Mal.
"Schaut", sagte die Frühlingskönigin. Sie sahen die Blitzchen in die Erde einschlagen und kleine Freudenfeuer entzünden.
"Die Menschen glauben, sie könnten mit ihnen den Winter vertreiben.
Obwohl es natürlich andersherum ist, die Frühlingsfeuer brennen erst,
wenn der Bärenkönig besiegt ist."
"Was ist wohl aus ihm geworden?"
"Wer kann sagen, wohin sich ein Winterkönig verkriecht, wenn es
Frühling wird? So mächtig wie dieses Mal wird er für lange Zeit nicht
wieder sein. Das Eisblaue Schloss ist ganz zu Wasser geworden."
Sie landeten an einem stillen Waldsee. Jeremy verwandelte sich zurück und Nashree half Paula dabei.
Nashrees goldene Flügel schillerten in der klaren Luft. Kleine
Schmetterlinge umtanzten sie zutraulich, ruhten in ihren Haaren und
ihrem Gewand. Sie saß auf einem Teppich aus Blumen. Doch Jeremys Blick
schweifte ab zu den kahlen Bäumen, voller Erinnerungen an den Waldsaal
des Bärenkönigs und in Sorge um seine Freunde im Winterreich. Hatte
Rrouk es wirklich geschafft, sein Rudel in die Freiheit zu führen? Und
wo blieben nur Maylee und Opa Felix? Sie waren doch nicht etwa
ertrunken?
Er wusste nicht, wie er Nashree danach fragen sollte, er wusste nicht
einmal, ob er das richtig verstanden hatte, dass Maylee mit der
vorlauten Klappe die Tochter dieser wunderschönen Königin sein sollte.
"Du siehst aus, als hättest du immer noch Kummer, Jeremy. Dein Herz ist schwer, ich kann es spüren. Was bedrückt dich?"
Und Jeremy erzählte ihr von allen seinen Freunden, von Rrouk und
Maylee, von Opa Felix und Tim und Herrn Sieken und Vanessa und Ghoor
... und sogar vom Bürgermeister. Er wunderte sich selbst, wie viele es
geworden waren.
"Wenn ihr nach Hause kommt, wird noch Schnee dort liegen", antwortete
die Königin nach einer Weile. "Denn es braucht Zeit, bis alle Länder
wieder blühen, so wie es Zeit braucht, bis Hoffnungen keimen. Und nicht
alle Saat geht auf."
"Wir müssen das Frühlingsland also verlassen. Ich werde Maylee nie
wiedersehen." Jeremy merkte, dass dies ein Kummer war, der beinahe so
schwer wog wie die Sorge um Opa Felix. "Und auch Ihr, Königin Nashree,
werdet uns nie mehr begegnen."
Nashree lachte. "Ich habe nicht gesagt, dass du Maylee nicht
wiedersehen wirst. Aber unser Land, da hast du Recht, das wirst du
nicht wiedersehen, denn du bist gebunden an den Fluss der Jahreszeiten.
Deshalb kommt Felix nicht, er ist nun ein alter Mann."
"Aber er wird doch nicht - ich meine, er wird doch nicht im Winterreich ... ?"
"Ich kann nicht sehen, was im Winterreich geschieht. Gib nur die
Hoffnung nicht auf. Und wann immer dir Zweifel kommen, weil alles tot
und erfroren zu sein scheint, schau aus nach einer grünen Blattspitze
im Schnee. Sie wird dir sagen, dass ich in deiner Nähe bin."
Sie lächelte ein letztes Mal und ihre goldenen Augen leuchteten.
"Ihr dürft umkehren und zurück ins Winterland wandern. Das bedeutet, in
die Vergangenheit zu gehen. Seid nicht traurig, wenn ihr den Frühling
für eine Weile verlassen müsst."
Sie flog davon über die blühenden Wiesen. Paula und Jeremy schauten ihr
nach, bis sich das goldene Leuchten ihrer Flügel mit dem Blau des
Himmels vermischte.
"Das war die Königin Nashree. Ich bin froh, Jeremy, dass wir sie kennen
gelernt haben. Sie ist so ... ganz aus Musik, weißt du?"
"Ja, ich weiß", sagte Jeremy leise.
Sie folgten dem Weg, den Nashree ihnen gewiesen hatte, ohne zu eilen
und rasteten immer wieder an besonders schönen Plätzen. Manchmal
wechselten sie die Gestalt und flogen über Blumenwiesen und klingende
Bachläufe, denn sie wussten, dass sie nicht nur den Frühling, sondern
auch ihre Schmetterlingsgestalt an den Grenzen zu ihrer eigenen Welt
zurücklassen mussten.
"Wo in diesem Winterreich kommen wir wohl an?", fragte Paula bang.
"Bestimmt ist noch niemals ein Sonnenkind im Winterreich gewesen."
"Wir müssen ganz sicher nicht weit hinein, Paula. Es ist ganz okay, weißt du. Nicht schlimmer als der Winter zu Hause."
Paula schauderte.
"Bestimmt ist es schon aufgetaut", tröstete Jeremy.
"Es wird schon gehen. Ich bin so froh, dass wir es geschafft haben, ich
glaube fast, ich kann den Frühling in meinem Herzen mitnehmen. Hättest
du jemals gedacht, dass du die Frühlingskönigin treffen würdest?"
"Ich wusste ja nicht einmal, dass ich ein Schmetterlingsmensch bin.
Wenn Opa Felix nicht gewesen wäre ... Seit wann weißt du eigentlich,
dass du ein Sonnenkind bist?"
"Seitdem du uns vom Frühlingsland erzählt hast. Da habe ich gewusst, dass meine Träume vom Sommer nicht nur Träume sind."
Unmerklich, während sie wanderten, waren die Blüten an ihrem Weg
seltener geworden. Im Wasser der Bäche schwammen Eisstückchen und am
Ufer eines Sees lag Schnee. Sie drehten sich fröstelnd von ihm weg.
"Ihr könntet mich mitnehmen, wenn ihr euch nicht schämt, einen alten Knacker bei euch zu haben!"
Erschreckt sahen sie sich um. Auf einem umgefallenen Baumstamm saß Opa Felix und lächelte. Sie schrieen auf vor Freude.
"Wo kommst du denn her? Wo ist Maylee?"
"Maylee? Schaut hinter euch, seht ihr den roten Fleck dort oben? Die
andere Frage, Jerry, sollte ich euch mit Fug und Recht stellen:
Immerhin bist du weggegangen, nicht ich. Aber ich muss sagen, du hast
es prima gemacht. Sogar besser als ich damals."
"Aber warum bist du im Frühlingsland, Opa Felix?", fragte Paula
verwirrt. "Nashree hat uns gesagt, du kannst nicht mehr hinein."
"...in meinem Alter, hat sie gemeint, was? Ich finde, sie war schon mal
charmanter! - Jerry, du wirst den See doch erkennen!" Er deutete hinter
sich.
"Das ist doch nicht... ?"
"Der Waldsee. Was ihr hier seht, ist alles, was vom Schloss übrig ist -
nun, bis auf ein paar tropfende weiße Vögel und die Treppen durchs
Nebelmeer. Es ist so groß, dass das rote Licht es nicht so ohne
weiteres erwärmen wird. Was hindurchführt, bleibt bis zum Frühjahr
erhalten."
"Wir sind also im Winterreich."
"Du bist näher an Zuhause, als du denkst, Sonnenscheinchen. Ich habe
übrigens eine Botschaft von Nashree bekommen. Sie sagt, sie schuldet
euch ein Geschenk." Er lächelte. "Ich bin sehr gespannt auf das
verdutzte Gesicht von Fräulein Hingsen, wenn es funktioniert! Genau
genommen darf sie das ja gar nicht tun, an der Zeit herumstellen, aber
Nashree ... immerhin ist sie Maylees Mutter..."
"Maylee ... hat sie denn gar nichts mehr gesagt?"
"Eine Menge, das kannst du dir wohl denken. Ich soll dir Grüße
bestellen. Für ein Schmetterlingsmädchen war sie ziemlich traurig."
"Ich werde sie niemals wiedersehen, oder?", fragte Jeremy bedrückt.
"Das weiß man nie. Nun lasst uns aber gehen, sonst kommen wir noch zu spät zum Abendbrot."
Opa Felix führte sie um den See herum, der ihnen beinahe so groß wie
ein Meer erschien. Nach einer langen Wanderung blieb er stehen.
"Wir müssen ein letztes Mal fliegen. Aber passt auf, an der Grenze zu
unserer Welt verliert ihr diese Fähigkeit. Wenn ihr nicht rechtzeitig
auf der Treppe landet, stürzt ihr ins Nebelmeer."
Sie passten höllisch auf. Kaum sahen sie die erste Treppenstufe, da landeten sie gleichzeitig und verwandelten sich zurück.
"Das war also mein Leben als Schmetterling", seufzte Jeremy. "Schade, dass es vorbei ist."
Einander an den Händen haltend, klommen sie die Stufen durchs Nebelmeer
hinauf, die immer noch so dunkel und so rutschig waren wie Jeremy sie
kannte.
"Opa Felix? Gab es diese Treppe schon immer?"
"Sie ist ein mit Eis überzogenes Wolkenbild, wie alles Feste im Nebelmeer. Wer weiß, wer sie sich ausgedacht hat."
Es wurde ein wenig wärmer, je höher sie kamen. Und plötzlich fühlten
sie die solide Backsteinwand mit den Mauerfugen rechts neben sich. Sie
waren zurück im Keller des Hauses. Jeremy führte sie durch die Gänge
zum Wäscheaufzug.
Opa Felix musterte skeptisch den Metallkasten. "Eine Zumutung für einen
alten Schmetterling. Sich in eine Blechkiste zu hocken, noch dazu, um
nach oben gezogen zu werden. Als ob man nicht fliegen könnte!" Aber er
zwinkerte dabei.
Jeremy drängte sich neben Paula in die Kabine. Ohne den Stab, der den
Raum diagonal blockiert hätte, war knapp für sie beide Platz.
"Jerry, würdest du mal rufen?"
"Was soll ich denn rufen?"
"Vielleicht, dass sie euch hochziehen sollen?"
"Ihr sollt uns hochziehen!" rief Jeremy verwirrt. Der Aufzug setzte
sich in Bewegung. Gespannt harrten die beiden im Dunkeln aus. Jeremy
rechnete im Stillen sein Sündenregister hoch. Es schien desto
schwerwiegender zu werden, je näher sie der Wäschekammer kamen. Wie
lange vermisste man sie wohl dieses Mal? Wenn nun ausgerechnet die
Hingsen ...?
Ein Spalt Tageslicht erschien und wurde breiter.
"Wo kommst ... PAULA? Wo kommst du denn her, das heißt, wo kommt ihr denn her?"
"Auftrag ausgeführt!", meldete Jeremy. "Das Schloss ist erledigt!"
Tim starrte ihn verständnislos an.
"Ich habe euch - ich meine, ich habe dich doch gerade erst runtergelassen? Woher kommt Paula denn plötzlich?"
Tatsächlich hörte Jeremy Vanessas Stimme hinter der Tür, die Fräulein Hingsen und Frau Larkes abzulenken versuchte.
"Lass den Korb noch einmal herunter", bat Jeremy. "Wir haben eine Überraschung."