Blick ins Buch - Vorwort von Artur Nickel aus 'Auf-BRUCH' in meine Zukunft - Jugendliche aus dem Ruhrgebiet blicken nach vorne

Einführung

Auf einmal war alles anders. Wie immer hatten sich diejenigen, die für die Herausgabe der Essener Anthologien verantwortlich sind, Gedanken gemacht, welches Thema den Kindern und Jugendlichen im Ruhrgebiet diesmal auf der Seele brannte und ihnen Anlass geben würde, darüber zu schreiben. Sie hatten sich die Beiträge angeschaut, die in der letzten Anthologie mit dem Titel „Ich begann zu erzählen“ abgedruckt sind, und nach eingehender Prüfung das neue Thema “Auf-BRUCH in meine Zukunft“ gefunden. Da kam Corona, eine Pandemie, wie sie die Welt lange nicht mehr erlebt hatte, und forderte ihre Opfer.  Das Virus war neu und insofern kein Schutz gegeben. Sehr schnell war klar, dass das gesellschaftliche Leben lahmgelegt werden musste, um dieser Bedrohung wirksam entgegenzutre-ten. Mitte März wurden dabei auch die Schulen auch geschlossen, um die möglichen Ansteckungswege zu unterbrechen. Es gab einen Lockdown, der seinesgleichen suchte. Zwar wurden die Schulen nach den Osterferien schrittweise wieder geöffnet, doch ist bis heute an einen Regelunterricht wie in den Zeiten vor der Pandemie nicht zu denken. Ja, „geregelten“ Unterricht gibt es inzwischen in den Schulen, der bei einer konkreten Ansteckung wieder auf Distanz-Unterricht umgestellt werden kann. Schließlich sollen alle in der Schule möglichst gut geschützt werden, aber das ist bisher alles.
Für die Kinder und Jugendlichen nicht nur im Ruhrgebiet, sondern in ganz Deutschland hieß das, dass sie bis zu den Sommerferien weitestgehend zu Hause und digi-tal unterrichtet wurden. Also praktisch die ganze Zeit der Ausschreibung dieser neuen Anthologie! Sie mussten in ihren Familien bleiben und Abstand voneinander halten, weil sich das Virus vornehmlich über die Atem-wege überträgt. Für die psychosoziale Entwicklung der jungen Leute war das natürlich Gift, aber nur so ließ sich das Ansteckungsrisiko mindern. Zu groß war die Zahl der Infizierten, zu groß auch die Zahl derer, die ihre Ansteckung mit dem Leben bezahlten. Und so gab das Virus dem Thema „Auf-BRUCH in meine Zukunft“ eine neue Wendung, die so niemand erwartet hatte. Es bot neue Herausforderungen: Wie lässt sich vor dem Hintergrund einer solchen Bedrohung die eigene Zu-kunft planen? Welche Zukunft kann es überhaupt ge-ben, wenn alle sozialen und emotionalen Sicherheiten, die man bisher hatte, sich auf einmal aufgelöst haben? Was sollen wir tun? Haben wir überhaupt noch eine Zukunft, die diesen Namen verdient?
Auch die Lage, die Kinder und Jugendlichen über das Schreibprojekt zu informieren, hat sich durch die Pan-demie verändert, jedenfalls oft. Viele Multiplikatoren waren nicht mehr in der Schule und konnten auch ihre Schülerinnen und Schüler nicht mehr erreichten. Denn im Hinblick auf die Digitalisierung ist die Bundesrepub-lik nach wie vor in hohem Maße Entwicklungsland. Da brach vieles zusammen. Umso erstaunlicher ist es, dass sich in diesem Jahr trotzdem wieder etwa genauso viele Kinder und Jugendliche an dem Buchprojekt beteiligt haben wie in den Jahren zuvor. Etwa zweihundert sind es aus dem ganzen Ruhrgebiet, und das ist bemerkenswert. Das Thema traf ganz offensichtlich ihren Nerv. Aufzubrechen, um die eigene Zukunft zu gewinnen, ist dabei das eine; dass man oft auch mit manchem bre-chen muss, das andere. Das führte ihnen gerade die Pandemiesituation, in der sie sich befanden, deutlich vor Augen. Und wie immer schrieben sie auch in ande-ren (Mutter-)Sprachen, wenn sie dies wollten. Das ist der Grund, warum der neue Band Beiträge auf Englisch, Hindi, Spanisch und Türkisch enthält, die Übersetzun-gen lieferten die jungen Autorinnen und Autoren dabei selber mit.
121 Texte haben den Weg in die neue Anthologie gefunden. Aufteilen lassen sie sich in vierzehn Kapitel. Und so setzen sich die jungen Autorinnen und Autoren im ersten damit auseinander, was sie grundsätzlich be-schäftigt, wenn sie ihre Zukunft in den Blick nehmen. Im zweiten versuchen sie dann genauer zu bestimmen, was mit dem Thema ihrer Ansicht nach gemeint ist. Im drit-ten Kapitel wiederum beschäftigen sie sich konkret mit dem neuen Virus und seinen konkreten Konsequenzen. Im vierten dann richten sie ihren Blick auf das Vergangene, um im fünften ihre Schwellensituation zu themati-sieren, in der sie sich befinden. Haben sie noch eine Zukunft? Wenn ja, welche? Was passiert, wenn es keine Zukunft mehr gibt? Fragen die sie umtreiben und die ganz schön schwer zu beantworten sind! Auf jeden Fall eröffnen sie ihnen, und das ist spannend, ganz offen-sichtlich, Räume, von früher zu erzählen und sich aus-zumalen, was werden könnte, wenn man ihnen die Chance dazu gibt – zwei weitere Kapitel mit den Titeln „Zeit zum Erzählen“ und „Entwürfe, biografisch (v)erdichtet“.  Natürlich dürfen vor diesem Hintergrund Schulgeschichten nicht fehlen, ist doch die Schule das Nadelöhr, durch das sie alle gehen. Sie ist auch der Ort, an dem Alltagshelden und Sehnsuchtshelden entstehen, das achte und neunte Kapitel. Und so rundet sich das Ganze bis zu den letzten beiden Kapiteln mit den Titeln „Meine Wünsche“ und „Bis zum Ende meiner Zukunft“. Gerade sie setzen dabei Akzente, wie sie nur selten zu sehen sind, so klar und direkt formulieren die Kinder und Jugendlichen aus dem Revier, wie sie ihre Zukunft gewinnen wollen. Melis Atalay (16 Jahre) bringt es schließlich in ihrem Beitrag, der den Band abschließt, auf den Punkt:

FANGT KLEIN AN! Das ist der beste Weg, um etwas zu verbessern. Wenn man glücklich sein will, dann muss man alles dafür tun. Das Glück ist zwar vom Schicksal bestimmt, doch kann das Glücklichsein jeder selbst voranbringen. FANGEN WIR AN!

Wir alle als Leserinnen und Leser werden angesprochen. Fangen wir an!
Kurz und gut, die neue Essener Anthologie hat es in sich. Wieder einmal. Und doch ist sie anders als ihre Vorgängerinnen. Weil die Situation heute eine andere ist, in der wir uns alle befinden! Weil sich die jungen Menschen verändern! Und weil wir mehr denn je alle gefordert sind, egal, wie alt oder jung wir sind! Corona lässt grüßen. Die Texte spiegeln das, was in den Kin-dern und Jugendlichen derzeit vor sich geht, wenn sie sich mit der Zukunft auseinandersetzen, mit ihrer Zu-kunft. Wohin ihre Reise wohl geht? Wenn sie denn eine Zukunft bekommen! Schon deshalb wünsche ich diesen jungen Autorinnen und Autoren ganz viele Leserinnen und Leser! Diese jungen Stimmen verdienen es, gehört zu werden!

Artur Nickel (Herausgeber)

Essen, im Oktober 2020