Chiara Woytaszek - Mehr mutige Maskenmenschen und Distanzbrückenwörter bitte!

Chiara Woytaszek, 20 Jahre, Hilders
Mehr mutige Maskenmenschen
und Distanzbrückenwörter bitte!

Lyra begutachtet die Spätkapitalismusnutella im obersten Teil des Supermarktregals und fragt sich, was danach kommt. In der letzten Zeit stolpern ihre Gedanken immer öfter über Globalisierungskomplexitäten.
An ihr vorbei rollt ein Einkaufswagen mit Maskenmensch auf eineinhalb Metern Abstand. Kann Distanz Platz für neue Perspektiven schaffen?
An der Kasse stellt sie sich in die vorgefertigten roten Fußabdrücke am dreckigen Supermarktboden. Ein Blick nach unten zeigt ihr, dass ihre Sommersandalen ein bisschen nach Freiheit schreien und gerne ausbrechen wollen in der Zeit des heimischen Fernwehs. Nostalgiereise – sie bewegt ihre Füße ein kleines Stück über die säuberlich geklebte Abstandslinie und fühlt sich ein bisschen rebellisch.   
Mit zwanzig ist man eben auch erst seit zwei Jahren planlos erwachsen.
Auf dem Parkplatz riecht es nach Frühsommerregen, altem Zigarettenrauch und verpasster Jugend. Ein kleines Grüppchen von Schülern hat sich um ein paar Bierdosen versam-melt. Das Bild schreit nach verdächtiger Normalität. Seit einiger Zeit ist die Ausgangssperre aufgehoben. Seit gestern ist sie nicht mehr in vorsorglicher Quarantäne. Seit drei Wochen spürt ihr kleiner Bruder keine Spätfolgen der Infektion vom letzten Frühjahr mehr. Sie zieht ihre Maske ab und lässt den Nieselregen sanft über ihr Gesicht streichen. Beim Ausatmen schafft sie Platz für die stickige Neuluft. Im Schein der Parkplatzlaterne bewegt sich die Welt in Zeitlu-pe.
„Die heutigen Inzidenzwer…“, bestimmt dreht sie an dem kleinen Rädchen ihres Autoradios, auf der Suche nach. Ja, nach was eigentlich? „Ein Erdbeben erschüttert …“, sie lässt die monotone Moderatorenstimme verstummen und fragt sich, wie die Leute im Fernsehen jeden Abend solche Neuig-keiten mit emotionslosen Gesichtern lesen können. Nachrichten hat sie schon seit mindestens drei Wochen nicht mehr gehört, mit schlechtem Gewissen. Aber ohnehin sind diese ein ständiger Dauerloop aus Naturkatastrophen, globaler Pandemie, Krieg und dem immerwährenden krönenden Abschluss der Bundesligaergebnisse, welche ihr in die-ser Wortreihe schon immer suspekt waren.
Die Stille im Auto schreit ihr vorwurfsvoll entgegen, die Leere zu füllen.
In der Uni hat sie mal gelernt, dass Negativberichterstattung das Ding unserer Zeit ist. Sie gehört jetzt offiziell zu der News-Avoidance-Gruppierung. Das sind die unwissenden Leute, welche von den Politikstudenten verachtende Blicke erhalten. Sie ist Politikstudentin.
Aber in letzter Zeit ist sie das nicht so richtig. Sie weiß ja nicht mal, was sie wählen soll.
Die Bildschirmgesichter sind ihr mittlerweile bekannter, aber nicht vertrauter. An kühlem Glas lässt sich nur lange an der Oberfläche kratzen. Die meisten Konversationen führt sie ohnehin mit ihrem Laptop, aber wirklich reden tut sie nicht, wenn sie spricht. Das hat sie in den letzten Tagen bemerkt. Das tut sie, wenn sie schreibt. Das kleine dunkelblaue Notizbuch auf dem leeren Beifahrersitz hört ihr auch jetzt aufmerksam zu.
Es erfährt von Zukunftsängsten, der FOMO-Generation, Unsicherheiten, Einengung, Erwartungsdruck, Einsamkeit, Privilegierungsgewissensbissen und einem kleinen Stückchen Reue, die vorherigen Jahre nicht mehr genossen und wertgeschätzt zu haben.
Aber als das Notizbuch ihr von ihren Gedanken erzählt, muss sie ein kleines bisschen lächeln.
Ihr letzter Satz blinzelt herausfordernd zwischen den grauen Abstandslinien hervor: ‚Sometimes I wanna live so badly that I forget I already do.‘
Freitag, der 21.06.2021, 11.33 Uhr zeigt ihr das kleine Autodisplay – und sie fährt los. In die falsche Richtung. Nimmt den Weg, der ursprünglich nicht geplant war. Heute nicht. Macht sich mit ihrem kleinen Wagen auf Richtung Auto-bahn und nicht nach Hause in ihre WG. Schaltet die mobilen Daten aus und ihre Lieblingssongs an. Heute fährt sie Richtung Meer und während der dreistündigen Fahrt singt sie zu den Liedern im Radio, und wenn die Nachrichten kommen, schaltet sie um, ohne schlechtes Gewissen. Aufbruch heißt Umbruch und heute ist das okay.
Auf rastlosen Raststättenparkplätzen streifen sich junge Augen in intensiver Kürze. ‚Blicke sind die neuen Berührun-gen unserer Zeit‘, denkt Lyra und träumt von dunkelblonden Locken zwischen ihren Fingern, starken Händen an ihren Hüften und genereller sündhafter Nähe ohne Coronaschnelltest.
Der Entschluss, Unnahbarkeit mit Worten zu überbrücken, sprudelt unkontrolliert von ihren Lippen und endet mit Handynummernaustausch.
Heute sehen sich mutige Mädchen in Raststättenspiegeln auch gerne unter Masken.  
Morgenröte wirft neues Licht auf alte Zeilen, Füße im Sand geben andere Standpunkte und die Nordsee kann berau-schende Reflexionsstille schenken.
Schwarze Tinte spiegelt Gedanken auf Papier, stellt die entscheidenden Fragen:
Warum bist du hier?
Was möchtest du erreichen?
Wie kommst du deinem Ziel näher?
Würdest du mit dir befreundet sein wollen, wenn du dich selbst triffst?
Wofür bist du dankbar?  
und lässt Lyra zu dem optimistischen Realisten mutieren und erkennen
dass es wichtig ist, morgen die Nachrichten wieder einzu-schalten
weil Hilflosigkeit keinen Platz für kreative Lösungsansätze
lässt sie realisieren, dass Märztränen an Sommertagen schneller vertrocknen werden, bis sie auf der Haut verblas-sen und fallen als nährender Regen auf Notizbuchseiten
fängt es an, stärker zu regnen auf Lyra
am Tanzen im Starkregen
wischt ihr die Sorgen der vergangenen Monate aus dem Gesicht
im Sommerregen
neue alte Lebensfreude