Dieter Krenz - Erzählungen in der Isolation - der neunundzwanzigste Tag (Literatur in schwierigen Zeiten)

Barbara kam am Nachmittag des neunundzwanzigsten Tages zu unserem isolierten Kind. Barbara hatte eine rote Brille auf ihrer Nase, viele Sommersprossen und sie konnte herzhaft lachen.

"Ich erzähle Dir die Geschichte vom Brief", sprach sie. "Letzte Woche war ich bei meinem Opa und meiner Omi zu Besuch. Das ist immer prima, weil wir sehr lange frühstücken, und mein Opa gerne lustige Sachen erzählt. An diesem Vormittag ist etwas Tolles passiert. Um elf Uhr fuhr draußen das gelbe Postauto vor. Meine Omi, die ein Päckchen erwartete, ging hinaus. Nach einer Weile kam sie mit dem Päckchen und ein paar Briefen zurück. Ein Brief war für meinen Opa bestimmt. Der Umschlag war ein bisschen schmuddelig. Aber die Briefmarke war interessant. „Eine indische Briefmarke. Die erkenne ich sofort“, meinte er. Er drehte den Brief auf die Rückseite. Der Absender war leider nicht mehr zu lesen. Also öffnete mein Opa den Brief. Dazu nahm er seinen verzierten, silbernen Brieföffner. Er zog ein zusammengefaltetes Papier heraus, schob die Brille etwas höher und begann zu lesen. Nach ein paar Sekunden legte er der Brief auf den Tisch und sprach: „So etwas habe ich ja noch nie erlebt.“ Er gab meiner Omi das Papier und deutete dabei auf die oberen Zeilen. Sie las und stutzte genauso. Ich wollte schon fragen, ob etwas Schlimmes passiert war. Aber da nahm mein Opa den Brief und begann ihn vorzulesen: „Kalkutta, 20. Dezember 1969. Lieber Georg, so kurz vor Weihnachten will ich Dir endlich berichten, wie es mir in Indien geht. Ich bin bei einer Expedition dabei, die Ausgrabungen macht.“ Hier hörte er auf zu lesen und legte den Brief wieder auf den Tisch: „Der Brief war fünfzig Jahre unterwegs! Und noch länger habe ich von meinem Freund nichts mehr gehört. Hoffentlich lebt er noch.“ "Meine Omi und ich waren sehr still, und mein Opa hatte ein paar Tränen in den Augen.“

Weißt Du einen Namen für diesen Brief?