Dieter Krenz - Geschichten vom Jungen nach der Quarantäne

 Dreißig Tage hatte das Kind zu Hause bleiben müssen um wieder gesund zu werden. Und jeden Tag hatte ihm zur Aufmunterung eine Freundin oder ein Freund eine Geschichte erzählt.

Diese "guten Geister" waren nun selbst krank und mussten daheim bleiben. Darum beschloss das Kind, sie zu besuchen und ihnen die Zeit zu vertreiben.

Der Erste, den es besuchte, war Rabi. Der hatte damals eine Geschichte vom Weg und seinen Erlebnissen mit den Menschen erzählt. Das Kind hatte sich überlegt keine Geschichte zu erzählen, sondern Rabi - und auch die anderen Kinder - mit etwas anderem zu überraschen.

Rabi, was ist Dein größter Wunsch?, fragte es, nachdem sich die beiden herzlich begrüßt hatten.

Rabi war so erstaunt, dass er erst einmal nichts sagen konnte.

Lass Dir Zeit!, beruhigte ihn das Kind, ich warte gerne.

Nach einer Ewigkeit räusperte sich Rabi und begann: Mein größter Wunsch....mein größter Wunsch ist..ist, dass mein Papa an Weihnachten heim kommt. Weißt du, mein Papa ist Soldat. Und jetzt ist er in Afghanistan. Das ist sehr weit weg. Das Kind wollte dazwischen fragen, wann der Vater das letzte Mal zu Hause gewesen war. Aber Rabi war jetzt nicht mehr aufzuhalten. All seine Sehnsucht nach seinem Papa, die Angst um ihn formte sich nun zu Wörtern und Sätzen. So schwieg das Kind und hörte aufmerksam zu. Rabi erzählte, wie ihm sein Vater das Schwimmen beigebracht hatte, wie sie zusammen einen riesigen Schneemann gebaut hatten, wie...Die Reihe dieser Erlebnisse schien unendlich lang zu sein. Doch das Kind hörte weiter geduldig zu; schließlich sollte Rabi wieder gesund werden.

Als der Junge gerade dabei war vom Drachenfliegen zu erzählen, klopfte es an der Tür. Das Kind stand auf und öffnete. Ein Mann in einer blauen Uniform stand im Türrahmen und schaute zu Rabi - und der schaute zurück, die Augen weit geöffnet, den Mund auch. Und nachdem sich die Erde gefühlt ganz schnell gedreht hatte, kullerten aus Rabis Augen Tränen. Sein Mund brachte mühsam Papa hervor. Doch da war Rabi bereits in den Armen des großen Mannes verschwunden.

Als Vater und Sohn sich langsam wieder lösten, fand Rabi seine Sprache wieder: Ist schon Weihnachten?