Ein begleitendes Schreiben zu dem Band 'Dem Stillstampf ein Bei stellen' von Alfred Büngen - Literarisches Schreiben ist individuelles Denken

Literarisches Schreiben ist individuelles Denken
Ein Begleitwort von Alfred Büngen

Erklärtes Ziel des Schreibens mit Kindern und Jugendlichen bei Projekten und Veröffentlichungen in der Schreibwerkstatt des Antonianums Vechta und in unserem Verlag ist es, den jungen Menschen die Möglichkeit zu bieten, eine eigene Sprache zu entwickeln, damit einen Ausdruck für eigenes Empfinden und Denken, für die Reflektion eigenen Seins in der Auseinandersetzung mit sich selbst und dem gesell-schaftlichen Umfeld zu finden. Damit wird ein Ergebnis literarischer Individualität von vornherein eingefordert. Nur eigene Gedanken, die sich in eigener Sprache und literarischer Form ausdrücken, ermöglichen das eigene Erkennen von sich im Verhältnis zu der umgebenden Welt.
Auch wenn sich bei den jungen SchreiberInnen spezifische literarische Mittel gleichen (hohe Bildlichkeit und Abstraktion, literarische Kurzformen zum nicht unerheblichen Teil mit lyrischen Annäherungen), bleiben doch die Beiträge in ihrer inhaltlichen Aussage und in ihrer konkreten literarischen Ausformung auch im vorliegenden Band sehr unterschiedlich. Erwarten Sie keine langen literarischen Texte, keine Romane. Literarische Kurzformen und Lyrik sind eher dazu geeignet, Gedanken junger Menschen zu transportieren.
Jeder Autorin, jedem Autor dieses Bandes könnte man den jeweiligen Text auch ohne Nennung des Autorennamens zuordnen, wenn man sich länger mit ihnen beschäftigt. Jeder hat seine Besonderheit, hat seinen literarischen Stil gefunden … momentan, denn er wird sich verändern, wird vielleicht sogar eines Tages stärker wieder in erzählerische Handlungen münden.
Nehmen wir zum Beispiel Annika Niewald. Sie hat in den letzten Monaten des literarischen Schaffens eine Vorliebe für die kürzesten Formen des Schreibens entdeckt. Radikale sprachliche Reduktion der beschriebenen Wirklichkeit, die eine inhaltliche Konzentration auf das Wesentliche bewirkt. So gelingt es ihr etwa in dem Kurztext ‚Gespinst‘, mit Ein-/ Zweiwortzeilen die Fragestellung an eine gemeinsamen Zukunft zu entwickeln, dabei benutzt sie ein herrliches Dir/Mir-Wort-Spiel. Ein abschließendes ‚Vielleicht‘ unterstreicht eine Nichteindeutigkeit, die sie häufig nutzt. Texte, die auf sprachlich brillante (und auch angenehme) Weise ihre Suche zeigen, ihren Versuch, die Wirklichkeit zu durchdringen. So deuten sich viele ihrer Texte zwar auf den ersten Blick als Aphorismus, doch sind es eher kurze Sinnfragen an die Wirklichkeit denn tatsächliche Sinnaussagen über die Beschaffenheit der Realität. Wie sehr sie aber auch längere, poetisch verspielte Formen beherrscht, zeigt etwa der Text ‚Verblassendes Licht‘ – ein wunderbares Spiel mit Farben (nutzt sie auch in anderen Texten) mit dem faszinierenden Anfangssatz „Ihre Augen haben die Farbe des Asphalts unter ihren Füßen“.
Eine gänzlich andere Herangehensweise an die Wirklichkeit und eine komplexere Schreibstruktur bei Julia Meisinger. „Und ich schreibe astronomisch unbekannte Galaxien nieder. Freigelassen von der Schwerkraft und gefesselt an die Sterne. Meine Tinte aus dunklem Rauch gesponnen“, charakterisiert sie literarisches Schreiben, damit auch ihr eigenes Tun. Fast immer sind ihre Texte Auseinandersetzungen mit einem unbekannten Du, mal Mensch, mal Dämon, mal geheimnisvoll, mal real, stets dem Weltgeschehen – „das Reich der kalten Freiheit“ – misstrauend. Das sich zunehmend stärker profilierende lyrische Ich – „Ich, Groß-Ich, grinse mir die Lippen aus“ – handelt fast immer gegenüber dem Du oder wird von diesem in Handlungen gezwungen, selten agiert es eigenständig gegenüber der Welt.
Beziehungen (zu anderen Menschen, zu Partnern, zum Erwachsenen und auch zur Welt) sind elementarer Bestandteil des literarischen Schreibens von Jugendlichen. Doch nur selten kann man eine solche Differenziertheit im Erfassen des Beziehungsgefüges im Poetischen und damit auch des Erfassens realer Strukturen lesen wie bei Laura Sheila Jünemann, die nicht zufällig bereits eine eigene literarische Veröffentlichung aufweisen kann. „Unsere Schritte verschieden, doch wir vertuschen es, denn wir berühren den Boden mit denselben Schuhen.“ Ein Kernsatz, der für viele ihrer Texte voller Bildlichkeiten gilt: Beachtung der Individualität in jedem Miteinander. Nur das Ausleben der Persönlichkeit gibt individuelle und gesellschaftliche Chancen des Miteinanders, damit ist auch das Auseinanderleben akzeptabel, wenn nicht sogar notweniger Teil jeglicher Beziehung: „… und trotzdem habe ich noch nie jemanden danke/ sagen hören,/ danke,/ dass du mich verlassen wirst.“
Ein noch recht neuer Name unter den JungautorInnen der Schreibwerkstatt ist Seray Arduc. Ihre Gedichte kann der Leser als Suchtexte von unglaublicher sprachlicher Schön-heit mit erstaunlich abstrakter Kraft und doch zugleich Klarheit begreifen: „Ich weiß nicht, wohin ich fliege,/ wenn ich zum Himmel aufschaue.“ Wie alle jungen Menschen ist sie auf der Suche nach ihrem Platz in diesem Leben. Sterne, eines der häufig von ihr benutzten Wörter, stehen als Moment der Sehnsucht nach etwas und zugleich als Gewissheit, dass dieses ‚etwas‘ existiert. Auffällig insbesondere das Gedicht ‚Bindungen‘, in dem sie die Hoffnung einer radikalen Trennung von den sie lähmenden Erinnerungen formu-liert, dies in einer metaphorischen Sprache, die einen beina-he erschaudern lässt.
Die Jüngste der Schreibenden dieser Werkstatt, die in jedem Jahr durch die Arbeit ihres Leiters Olaf Bröcker immer wieder neue literarische Talente hervorbringt, ist Rieke Freese. „Der Idealfall macht sprunghafte Fortschritte im Dasein und verschwindet trotzdem hin und wieder“ – würden sie einer gerade einmal Fünfzehnjährigen einen solchen Satz zutrauen? Rieke Freese merkt man an, dass sie eine belesene junge Frau ist, die häufig über einen historischen oder philosophischen Moment zur Entdeckung eigenen Seins schreibt. Sprachliche Präzision lässt auch bei ihr eine metaphorische Sprachebene zu, von einer Tiefe, die ihre ganze Gedankenvielfalt aufdeckt.
Nicht nur bei ihren Texten muss man immer wieder fragen, warum Erwachsene jugendliches Schreiben zumeist als un-wesentlich, als unliterarisch abtun. Jeder ihrer Texte könnte bereits heute in einer Anthologie literarischer Texte von jungen AutorInnen des 20./21. Jahrhunderts seinen Platz finden.
Das gilt ebenso für Luisa Krieger. Sie ist eine Meisterin der Schaffung neuer Begrifflichkeiten, da ihr die alltägliche Sprache zu eng ist. Die Gummistiefel sind eben nicht gelb vielmehr „hüpfburgengelb“, das Kind hat eine „fliegenpilzgroße(n) Regenjacke“ und es ist „schneeweißkalt“, kein Beitrag von ihr ohne eine solche Wortschöpfung.
Kleine Wirklichkeitsmomente mit all ihrer Banalität locken sie zum Schreiben. Selbst bei älteren Autoren gibt es nur selten Schreiber, die mit einer solchen Leichtigkeit derartige Sprachbilder über Wirklichkeit herbeiführen. Ihre Texte muss man einfach mehrfach genießen, um die ganze Größe zu erleben, sich am besten von der Autorin vorlesen lassen. Erleben Sie mit ihr die „Kirschblütentraumbaumallee“, die manchmal voller Blut ist, denn die Schönheit der Sprache verhindert bei ihr nicht das Berücksichtigen der Realität. „Mein Mund greift nach einem Lächeln, versagt unter der Spülung meiner Tränen jedoch fast völlig.“
In nichts steht Ida Bergen ihr nach, wenn sie dabei auch einen ganz anderen Stil entwickelt. Ihre häufig lyrischen Texte enthalten stets eine wunderbar feine Melancholie. In ihrem Text ‚eigenart‘ entwickelt sie zum Beispiel die Beschreibung einer Gemeinsamkeit. Selten wohl hat man eine solch in-tensive Sprachlichkeit gelesen, die aus einer simplen Natur-beschreibung einen solchen Sinn zaubert. Oder wie empfin-den Sie als Leser die Metaphorik einer sich abkühlenden Beziehung: „Aber weil die Blätter/ Braun werden/ Fängt mein Herz an/ Schnee zu schreien“. Das ist junges Schreiben in Vollendung, voller tiefer Empfindsamkeit und sprachlichem Vermögen.
Eine außergewöhnliche Rolle spielt Zimel Mehmood mit ihren Texten. Wie alle anderen Autorinnen zeigt auch sie diese Einfühlsamkeit sprachlicher Gestaltung und brilliert mit Bildern: „Der Blätter überkicherte Strauch. Er weint, weil der Nebel sich verweigerte. Blumen höhnten sich Sehn-sucht, Schwindel, Reue, eine zarte zweite Schicht.“ Damit deutet sich auch ihre Hauptthematik des Schreibens an: die Suche nach einer Gemeinsamkeit, wobei das Du in ihren Texten abstrakt bleibt. Sie nimmt zudem Momente des japanischen Schreibens auf, spielt mit Farben und Naturelementen, die aus ihren Texten zumeist eine lyrische Prosa machen.
Auch Svea Marie Sieve verzauberte ihr Publikum bereits mit einem ersten eigenständigen Band, dem sie nun eine mehr als überzeugende Auswahl weiterer Texte folgen lässt. Ihre Sprache noch präziser, noch bildlicher, ihre Bildwelt noch abstrakter. „Ich dachte, ich sei schlauer geworden mit den Zeiten, die ich malte. Nur weniger blind bedeutet nicht gleich weniger verblendet. Ich konnte Karmesin jetzt von Rubin unterscheiden, doch das Bild wurde doch nicht grüner.“ Und sie scheut sich nicht, dem Leser einen Umgang mit ihrem Schreiben zu verdeutlichen: „Atmet meine Kunst, esst meine Vernunft.“ In diesen Momenten des radikalen Betonens des Individualismus gegen jede gesellschaftliche Norm knüpft sie an große Traditionen von Kunst und Litera-tur an. „Auf deinem Hals kann ich besser sehen als auf mei-nem, ich leih ihn mir mal.“ Ein weiterer Beleg dafür, dass literarisches Schreiben vor allem auch literarisches Denken ist.
Einen ganz eigenen Stil entwickelt Emma Lüers. „Ich bin angekommen. Ich stehe über der Welt, die ich kannte, auf dem Wagen, den ich erklommen habe.“ Nein, keinesfalls hebt sie in ihrem literarischen Schreiben von der realen Welt ab. Im Gegenteil, sie bemerkt in ihrem Schreiben, dass lite-rarische Sicht zu neuer Weltsicht führen kann, die jedoch auf ihren alten Grundfesten basiert: „Ich bin erwachsener ge-worden, werde nie wieder vom Wagen steigen können und werde ihm weiter untergeben sein, doch von hier oben kann ich beobachten, wie viele Söhne die Blicke ihrer Väter der schwarzen Welle opfern.“ So spielt sie mit Sichtweisen, nimmt immer wieder neue Perspektiven von Menschen und Sachen ein. Im Gegensatz zu vielen anderen AutorInnen bleibt sie zudem noch in erzählerischer Nähe, wenn auch zunehmend verkürzter und fragmentierter. Genau diese Kombination aus veränderter Perspektive und klassischem Erzählen schafft einen bemerkenswerten Lesereiz. Es wird spannend zu beobachten sein, wohin sie die literarische und auch künstlerische Entwicklung führt.
Bleiben die beiden männlichen Vertreter der Werkstatt. Gibt es, wird jetzt gleich die Frage kommen, einen erkennbaren Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Schreiben? Ich würde verneinen und sagen, es gibt Elemente des literarischen Schreibens, denen die männlichen Schreiber eher zuneigen, ohne dass die weiblichen Schreiber es nicht könnten.
Julius Strotmanns Texte sind gedanklich durchkombiniert, ob vor dem Schreiben oder während des Schreibens als Komposition entstanden, ist schwierig auszumachen. Er hat ein klares Schreibziel, mit dem er den Leser oder auch sich selbst überzeugen will. Kein Wunder, dass bei ihm häufig essayistische Momente anzutreffen sind, mancher Text auch ein kurzer philosophischer Exkurs ist. Seinen ‚Staubsauger‘-Text lässt er mit der Bemerkung enden: „… aber es fühlt sich toll an, zu arbeiten.“ Und es liest sich toll, da seine Texte eine gewisse Leichtigkeit besitzen, er sich zudem einer kla-ren Sprache und einer klaren Satzstruktur bedient. Julius Strotmanns Texte erfreuen sich selbst an ihrer Entfaltung eines Gedankens, nehmen den Leser Schritt für Schritt mit, überraschen ihn, sind oft genug in ihrer Gedankenkonstruktion nicht voraussehbar.
Bliebe noch Ragan Virnich. Seine kurzen Texte erscheinen stets als ein Ausschnitt aus einem Großen, einem Gedanken, einer Beschreibung, einer Handlung. „Zwischen den schweren Novemberstürmen stehen weiße Häuser stumm in einer Straße“, ein für ihn sehr typischer Anfang. Den Leser nimmt er damit gefangen, lässt ihn sein eigenes Bild entfalten, lässt ihn eine eigene Komposition träumen, auf der er dann seinen Gedanken ausbreitet. Im Regelfall bricht er den Text am Ende mit einer besonderen, unerwarteten Wendung. Eine den Leser vereinnahmende Schreibweise, die in dieser Form keiner der übrigen SchreiberInnen hat. Präzise und von philosophischer Klarheit auch seine Kürzesttexte, auch hier stets eine überraschende Erkenntniswendung am Ende.
Zu viel versprochen? Zwölf Autorinnen und Autoren, jeder mit seiner ganz eigenen Denk- und Schreibweise. Ich verbeuge mich in aller Ehrfurcht und auch Diskussionslust vor eurem Schreiben und Denken. Ein unglaublicher Reichtum, ein literarisches Reservoir, das in seiner Breite und Tiefe keinen Vergleich scheuen muss. Ich jedenfalls kann nur meine Hochachtung ausdrücken und euch das Versprechen einer weiteren Förderung geben.
Mein ganz besonderer Dank gilt Olaf Bröcker, der den jungen Menschen bei aller literarischer Herausforderung genügend Luft lässt, ihre jeweilige Individualität zu entwickeln. Auch an dieser Stelle sei noch einmal gesagt: Ich weiß keine Stadt, in der sich in den letzten Jahren eine derartige Vielfalt von literarischen Talenten entwickelt hat.