Emma Lüers - In einer Minute in der Zukunft mit dir (2. Platz des 3. Vechtaer Jugendliteraturpreises)

Emma Lüers (Vechta, 18 J.)
In einer Minute in der Zukunft nach dir

Als unsere Zeit verging, lief sie mir durch die Hände, bis in Momente hinein, die ich wieder verstehen konnte. Und ich blieb da. Fand mich allein stehend irgendwo, wo ich zuvor schon einmal war. „Was hat mich hier plötzlich einsam gemacht?“, schrie ich in die Wolken und der Wind murmelte mir mit ein paar Tropfen nur ein „Ich liebe dich“ an die Wange zurück. So lernte ich ihn kennen.
Ich rannte die Steppe. Weil ich in dieser Zukunft auf einmal keine Zeit mehr fand oder brauchte, gestrandet ohne Wasser, das mich getragen hat. Es brachte ein Gefühl hervor, das mich an Enge erinnerte. Ich suchte mir einen Ort zum Warten und mehr als Fläche gab diese Welt nicht her. Ich fand mich in einem Feld wachend, jeden Morgen eingeschlafen und auf einem Strohbett liegend. Die Beine aufgekratzt von den spitzen Halmen und blaue Kussflecken den Hals hinab, denn der Wind war mein einziger neuer Besucher geworden. Er erzählte der einzigen verlorenen Seele der Welt gerne seine alten Geschichten, doch wann sie gespielt haben, war egal, denn sie spielten immer neu an, wenn er begann zu erzählen.
Er brachte mir bei, was eine Minute war. Während ich meine wunden Füße durch die Halme schob, verließ der Wind mich plötzlich und nahm die Luft mit. Als ich nach einer gefühlten Ewigkeit erstickend auf der Erde lag, erschien er wieder, drückte mir einen kühlen Kuss auf die Nase und die Luft kehrte zurück in meine zerknitterten Lungen. Er tuschelte mir durch die Haare: „Liebster Mensch, ich war bloß eine Minute weg.“ Er wollte, dass ich mich erinnere, was Zeit war.
Oft sah ich ihn durch die Ähren laufen, und dann entdeckte ich tatsächlich die Zeit wieder. Nicht nur eine grausame Minute, sondern die ganze Zeit. Es war Frühling geworden, und die kahlen Halme der Steppe waren zu Ähren herangewachsen. Der Wind war nicht mehr so rau. Fast zärtlich ging er mit seiner Welt um, es gab keine turbulenten Stürme mehr und auch die Küsse waren schöner. Wärmer. Bis ich durch die Wolken in die Sonne blicken konnte. Mir bot sich bald ein so unbekanntes Bild. Mit leichten Fingern zog der Wind an den Spitzen der Ähren. Bis sie sich in seine Richtung neigten, bogen sich die Halme in seiner Hand, während er an ihnen vorbeischritt und an weiteren Spitzen ziehen konnte. Und leise und still glitt jeder Halm zurück, um schwankend den nächsten zu streicheln. Er wanderte durch das Feld, gekleidet in ein wunderschönes weites Kleid aus seidiger Bewegung. Und wäre es nicht der Wind selbst gewesen, hätte das Kleid in einer weichen Böe geschwebt. So brachte er Wellen in die Steppe, wo ich sonst kein Wasser fand – und Zeit dahin, wo ich gestrandet war. Dann vergrub er sich in meinen Haaren. Sein Schleier wehte noch durch die Ähren.
Das war nicht mehr das Spiel mit der einen Minute, welches er spielte, um mir Halt in seiner Welt zu geben, um mir zu zeigen, was eine Minute wirklich war. Die Brise, die mir ums Gesicht schmeichelte, flüsterte mir, dass das hier die Zeit weg von dir ist. Wusstest du, dass wir in unserer Zeit nur eine Minute lang zusammen waren? Eine Minute, bis du „Wir haben zusammen keinen Platz in der Zukunft“ in unsere vereinten Hände gemur¬melt hast. Dann habe ich mich in der Steppe wiedergefunden und du hattest recht gehabt. Zusammen war die Zukunft für uns nichts. Nur für mich. Und hier hat sich der Wind in mich verliebt.