Erlebt und Erträumt - Wendelin Mangold zu Heinrich Rahns Roman 'Die Birkeninsel'
ERLEBTES UND ERTRÄUMTES
Gedanken zum jüngsten Roman von Heinrich Rahn „Die Birkeninsel
Folgendes habe ich am 19. Mai 2018 geschrieben, als der Roman „Die Birkeninsel“ noch nicht erschienen ist: Sobald er demnächst erscheint, lasse ich mich überraschen. Dafür kenne ich Heinrich Rahn viel zu gut aus Begegnungen und Telefongesprächen, aber selbstverständlich auch aus seinen vorhergehenden Romanen „Der Jukagire“ und „Aufzug Süd-Nord“.
Ich weiß nicht, ob dem Autor dabei bewusst war oder nicht, den neuen Roman so zu überschreiben: „Die Birkeninsel“. Denn es wäre falsch, den Birkenwald konkret zu nehmen. Das Zurückziehen ins Private (Familie, Glaube etc.), hier in die Natur, war für uns Russlanddeutsche in der Sowjetunion das einzig Heilsame und Heilige. Von keiner Parteitribüne wurden wir erwähnt, als ob es uns nicht gegeben hätte, daher ging uns auch wenig die Politik und Ideologie des Landes an. Also, eine Insel? I wo! Eine uferlose Insel von Gefühlen, Gedanken, Schicksalen. Die Insel als ein Rückzugsort, und einen Rückzugsort braucht jeder normale vernünftige Mensch.
Was macht einen Menschen zu einem Dichter oder Schriftsteller, was sind die Voraussetzungen, einer zu werden? Das ist das Talent und das hat Heinrich Rahn. Das ist das Schicksal und das hat Heinrich Rahn als Russlanddeutscher wie kein anderer. Das ist die Anstrengung und das die Eigenschaft von Heinrich Rahn, wenn man bedenkt wie anstrengend, wie gründlich und wie lange er an seinen Romanen arbeitet.
Man kriegt ein Buch, eine Neuerscheinung, eines Autors geschenkt, aber steckt gerade in gesundheitlichen und familiären Sorgen. Der Kopf summt, die Stimmung ist im Eimer. Nein, nicht jetzt! Man legt das Buch beiseite und wartet auf bessere Zeiten. Man will es nicht stopfen, man will es genießen. Und nun ist es soweit. Man schlägt das Buch genüsslich auf, als wäre es ein warmes duftendes Frühstücksbrötchen. Man liest sich hinein und kann nicht mehr loslassen. Es ist der neue Roman von Heinrich Rahn „Die Birkeninsel“ (Geest-Verlag, Vechta, 2018). Es ist der dritte Roman von ihm. Solide vom Umschlag, Umfang und der Schrift. Nun heißt es sich hineinlesen und genießen! Was ich eben tue, solange die Morgenfrische hält, und sie hält heute zum Glück bis in die Mittagszeit hinein.
Ereignisse, Begegnungen, Situationen, bedrohliche oder fröhliche, kurzum schicksalhafte, deren es in seinem langen Leben mehr als genug gegeben hatte, sind in seinem Gedächtnis und Herzen für immer hängen geblieben. Und wie einfühlsam und intelligent Heinrich Rahn von Natur ist, führte kein Weg an der Poesie und dem Fabulieren vorbei. Dazu veranlagt, das letzte insbesondere. Die Wirklichkeit und das Phantastische sind in seinen Romanen, auch diesmal so, nahtlos miteinander zum Verwechseln verwoben. Sie gehen laufend ineinander über, kennen keine Grenzen. Man öffne ein beliebiges Kapitel des Romans und überzeuge sich darin, als Beweis das Kapitel 8, wo der Protagonist im Wald auf ein Reh trifft, das statt wegzulaufen, bei ihm Schutz vor zwei Wölfen sucht und wo er selbst ihnen knapp entkommen ist. Und eben dieses Reh erscheint ihm Monate später im Traum: „Es sprach mich mit einer jungen Frauenstimme an: „Wir treffen uns irgendwann, irgendwo in den Bergwäldern. Ich erscheine jedoch in einer anderen Gestalt. Versuche, mich wiederzuerkennen!“ (S. 222)
Man muss betonen, dass Heinrich Rahn ein ausgezeichneter Kenner der Tier- und Pflanzenwelt ist. Auf diese Art des Ungewöhnlichen gelingt es ihm, sowohl das Schicksal seiner Familie und folglich das eigene, als auch das der gesamten russlanddeutschen Volksgruppe mit ihren Tiefen und ihrer Tragik poetisch darzustellen. Wenn das nicht Grund genug ist, das Buch zu lesen, dann weiß ich nicht.
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass dies das prägende Merkmal, die Einmaligkeit, die Philosophie seiner Prosawerke unverkennbar ist. Eine Art Synthese. Hierin unterscheidet sich Heinrich Rahn von den meisten russlanddeutschen Autoren.
Der Roman ist eine Bereicherung, was das Wissen um das Leben und Weben, um die Geschichte und das Schicksal der Russlanddeutschen betrifft. Daher bin ich mir sicher, sollte dem Roman momentan auch nicht gebührend Aufmerksamkeit geschenkt, dass die kommenden Generation der Russlanddeutschen ihn irgendwann als Schatz entdecken wird. Denn der Roman liefert keine nackten historischen Fakten, sonder in Traum und Phantasie verwobene emotionale Geschichten.
Wendelin Mangold