Frauke Tuttlies - Alles Lüge (Vorschau)

Eine Sammlung ihrer besten kurzen Erzählungen legt die Berliner Autorin Frauke Tuttlies im Januar im Geest-Verlag vor. Das einigende Moment aller Erzählungen ist zum einen, dass es sich bei allen Erzählungen um literarische Porträts handelt, zum anderen, dass in allen Erzählungen Tee getrunken wird.

Nach ihrem Lyrikband 'Gebrochene Akkorde ihre zweite Veröffentlichung im Verlag.

 

Frauke Tuttlies 

Alles Lüge

Geest-Verlag 2009

Henrys Hochzeit  (Ausschnitt)             

Sobald Henrika das Haus verließ, nahm sie Haltung an. Ging erhobenen Hauptes die Straße entlang, als hätte sie einen roten Teppich unter den Füßen, der ihren Schritt zugleich betonte und dämpfte.
Wenn Henrika lange Zeit nicht auf der Bühne gestanden hatte, war ihr dieser stille Gang über den roten Teppich, der vor ihrer Haustür begann, nicht genug. Dann warf sie den Kopf zurück, schob ihre Brust heraus und begann auf der Straße zu singen. Meistens ein Stück aus irgendeinem Musical. Henrika mochte Musicals. Und Lieder von Brecht.
Hinterher sah sie mich an. Frech, forsch, stolz, von oben herab und zwinkerte mir zu. Ich zwinkerte zurück.

Sie wohnte eine Etage über mir. Ich konnte sie hören. Nicht nur, weil das Haus, in dem wir wohnten, hellhörig war. Henrika war ausgebildete Sängerin.
Ihr Sopran drang durch die Wände, durch meine Ohrstöpsel. Ich brauchte keinen Wecker zu stellen, frühmorgens wachte ich mit ihrer Stimme auf.
Sie schwebte über mir, frei im Raum und fand doch überall Halt. Ich hörte, wie sie die Sprossen der Tonleitern höher und höher kletterte. Mit festem Tritt. Absolut schwindelfrei. Sie stürzte nie ab.
Henrika verlor beim Singen nicht den Bodenkontakt.
Ich stand auf und ging unter die Dusche.
Wenn Henrika sich warm gesungen hatte,
kochte ich mir einen Tee. Wenn sie mit ihren Übungsstücken begann, nahm ich an meinem Schreibtisch Platz.
Egal, ob die Sonne schien, es draußen regnete, schneite, blitzte oder hagelte, Henrika sang und ich schrieb. Wir waren ein Arbeitsduo.                

Als Henrika eines Tages mit wirren, fliegenden Haaren und geröteten Wangen in meiner Wohnungstür stand, erschrak ich ein wenig. Ihre Augen glänzten, ihr Blick war fiebrig. Selbst ihre Stimme schien zu vibrieren. Dieser Mann, verkündete sie, ist es, lachte schnell und hell und bat mich, komm hoch.

Rüdiger lag auf Henrikas Sofa wie ein wohlgenährter Buddha. Seine Leibesfülle drückte sämtliche Sofakissen platt. Er reichte mir eine müde, schlaffe Hand und unterdrückte ein Gähnen.
Henrika brachte uns Trauben, sie holte Käse, lief nach Wein. Rüdiger lag weiter matt auf ihrem Sofa. Wie ein Kuckuck im Nest, musste ich denken.
Der Kuckuck sperrte den Schnabel auf und wollte mehr. Henrika sprang auf.

Die Wohnung über mir wurde rasch still. Da der Kuckuck ungern Auto fuhr, hielt sich Henrika bald nur noch bei ihm auf. Sie überlegte, zu ihm zu ziehen, aber das wollte der Kuckuck nicht. Man kann ja nie wissen, behauptete er. Also sah Henrika bei sich zu Hause ab und zu nach dem Rechten. Sie goss ihre Blumen, sortierte die Post und schaute bei mir vorbei.
Henrika war glücklich, das stand ihr ins Gesicht geschrieben. Da war nur eine Kleinigkeit, die sie im Anfang irritierte, doch inzwischen mochte sie auch das, dass er mich Henry nennt, erzählte Henrika.
Der Kuckuck nannte Henrika tatsächlich Henry.

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