Geht diese Woche in Druck - Martin Thielmann - Das Geheimnis der Berge (mit Leseauszug-Die Esel)

Thielmann, Martin
Das Geheimnis der Berge
Geschichten
aus dem Orient
Geest- Verlag 2009
ISBN 978-3-86685-194-8

12 Euro

 

Die Erzählungen dieses Buches bringen uns eine Welt näher, die dem
bundesdeutschen Leser zumeist unbekannt ist. Martin Thielmann schildert
uns das Leben von Russlanddeutschen im asiatischen Teil der
Sowjet­union. Sie wurden zu Opfern der Geschichte: unfreiwillige
Kollektivierung, Stalinterror, Verbannung und oft genug Hungertod in
der Trudarmee. Fa-sungslos steht der Leser vor der gnadenlosen Willkür,
die die Herr­schenden ausübten, zugleich lernt er aber auch den
Lebenswillen und die Willensstärke kennen, mit der Menschen um ihr
Überleben kämpften.
Kurzgeschichten mit liebevollen Naturbetrachtungen und interessanten
Begegnungen sowie Tiergeschichten zum Schmunzeln runden diesen
Erzählband des Autoren ab, der auf dem Hintergrund seines persönlichen
Erlebens und seiner erzählerischen Erfahrungen dem Leser eine
viel­schichtige Begegnung mit diesen ihm fremden Welten ermöglicht.
Agnes Gossen

 

Leseausschnitt

DIE ESEL

Die Esel stellen die harmlosesten und zugleich arbeit-samsten Haustiere dar, die ich kenne. Oh, wie viel Ge-duld müssen sie haben, um den Bund mit uns Men-schen zu ertragen. Wie viele Tausende von Jahren muss-ten sie geduldig die Last tragen, die häufig doppelt so schwer als sie selbst war.
Eines Tages aber war es mit ihrer Geduld zu Ende. Es ereignete sich in der UdSSR zu Chruschtschows Zeiten. Die Esel wurden mit einer Steuer belastet, eigentlich wurde sie natürlich ihren Herren auferlegt. Ganz beson-ders hart traf es die Esel der mittelasiatischen Republi-ken, da es dort sehr viele gab. Die staatliche Eselsteuer war so hoch, dass die Besitzer ihre Tiere vom Hof ver-trieben.
In Bremen wurde einst ein Esel vom Hof gejagt, weil er schon alt und schwach war, und sofort griffen die Ge¬brüder Grimm zur Feder. In den mittelasiatischen Re-publiken trieb man fast das ganze Eselvolk von den Hö-fen und niemand von den Tausenden von Journalisten tauchte auch nur eine Feder in die Tinte. Die Esel wur-den einfach vertrieben. Es war eine wenig originelle Ver-treibung: Sie wurden einfach vom Hof getrieben, nicht gefüttert und nicht mehr auf den Hof zurückgelassen.
Die vielen Esel wollten irgendwie die wirren Zeiten
überleben und, um Widerstand zu leisten, vereinigten sie sich zu großen Herden. Es kam so weit, dass sich fast in jedem Ort solch eine Herde obdachloser Esel for¬mierte. Sie unternahmen gemeinsam Streifzüge durch Privat- und Kolchosgärten sowie Felder. Es war eine organisierte Aktion gegen die unverdiente Vertreibung. Die Esel begriffen nicht, weswegen sie eigentlich verjagt worden waren. War das die ‚Dankbarkeit’ für ihren Dienst? Von der Steuer hatten sie selbstverständlich keine Ah-nung, denn seit Jahrtausenden war es niemandem ein-gefallen, sie mit einer Steuer zu belegen. „Was ist bloß mit den Menschen passiert?“, fragten sich die Esel. „Wir lebten doch immer mit ihnen unter einem Dach, und jetzt das!“
Einige barmherzige Herren fütterten heimlich ihre
Esel, aber nur außerhalb des Hofes, denn sie wollten nicht erwischt werden, das hätte sie womöglich der Steu-erzahlung näher gebracht. Also wanderten die Eselher-den durch Gärten, Felder und über Landstraßen auf der Suche nach Futter. Es war gefährlich, wenn so eine Herde oder gar ein brummiger Einzelgänger einem auf der Hauptstraße begegnete. Sie waren unberechenbar.
Eines Tages, als es auf den Feldern schon fast nichts mehr zu holen gab, wanderte ein Eselpaar auf der Su-che nach Futter eine Hauptstraße entlang. Hin und wie-der fanden sie ein Schnippchen Heu, das von einem Heuwagen heruntergefallen war. Zur selben Zeit machte sich Abraham Braun mit seinem Pkw auf den Weg zum Sanatorium, das am malerischen Issyk-Kölsee lag. Es war spät am Abend, die Straße war unbeleuchtet und die Sicht minimal. Plötzlich erschien direkt vor seinem Pkw das wandernde Eselpaar. Abraham drückte mit aller Kraft auf die Bremse und hupte gleichzeitig. Das unerwartete Quietschen der Bremse und das Hupen versetzten die Esel in einen Schrecken. Der Eselmann schlug, ohne sich umzuschauen, dem Pkw ins ‚Gesicht’ und traf dabei das linke ‚Auge’, das in tausend Stücke zersprang und klirrend auf der Straße landete. Die Ese-lin aber sprang auf die Haube und führte dort einen bis dahin unbekannten Tanz aus. Sie geriet dabei so in Ekstase, dass sie gar nicht aufhören konnte.
Abraham war schockiert. Es sprang aus dem Auto, stürzte sich auf die Esel und fuchtelte mit den Händen herum. „Verdammte Esel, was habt ihr mir angetan? Ihr habt ja die ganze Haube beschädigt und den Scheinwer-fer zerschlagen!“
‚Hast du denn keine Augen?’, antworteten die Tiere in Gedanken. ‚Man muss doch denken und schauen, wenn man sich ans Steuerrad setzt!’
Und sie gingen weiter, mit ihren kurzen Schwänzen wedelnd und mit den kleinen Hufen auf dem Asphalt klappernd. Sie empörten sich noch lange über den Fah-rer, der sie so erschreckt hatte, und dachten dabei über ihr schweres Schicksal nach, das sich offensichtlich immer unfreundlicher entwickelte. Sie erinnerten sich an ihre zahlreichen Ahnen, die unzählbare Lasten für die Menschen transportiert hatten. Und sollte dieses Ge¬hupe und Geschimpfe die Belohnung sein? Es war eine Beleidigung für den ganzen großen Stamm der Esel, der gesellschaftlich in die Enge getrieben und ohne ein Dach über dem Kopf geblieben war.
„Wenn die Menschen nur eine kleine Ahnung hätten, was wir von ihnen halten! Für all unsere Arbeit wollen wir ja nicht mehr, als ein schäbiges Dach über dem Kopf und etwas zu fressen. Aber wir sind großzügig, wir has-sen sie nicht einmal für ihr Handeln, denn wir kennen keinen Hass! Oh, wenn die Menschen doch unsere Sprache verstehen könnten, dann würden wir ihnen bei¬bringen, wie man sich auf Erden benehmen sollte! Aber das ist wohl ein vergebliches Hoffen, sie werden nie so hoch steigen, dass sie unsere Sprache sprechen und verstehen lernen!“
Und das Eselpaar schritt weiter über die Straße und philosophierte über die anthropologische Genese dieser seltsamen Spezies Mensch, während sie versuchten, et¬was Essbares zu finden.