Geht heute in die Vorbereitung; Szenische Lesung / Theaterstück Heinrich erzählt

In die Vorbereitung der szenischen Lesung geht heute 'Heinrich erzählt'. Alle Jugendlichen, die mitgeschrieben haben, etwa 60, übernehmen dabei eine Rolle, die Gesa Bürster und Sabrine Ferber für sie aus dem Roman heraus entwickelt haben.

 

Heinrich erzählt

Jugendliche im Nationalsozialismus

Ein Schreib- und
Buchprojekt
der 9ten Klassen
der Oberschule Emstek
in Zusammenarbeit
mit dem Geest-Verlag

Bearbeitung von

Sabrine Ferber und Gesa Bürster

ISBN 978-3-86685-562-5                                                

ca. 200 S., 11 Euro

 

 

Mehr als 50 Jugendliche der 9ten Klassen der Oberschule Emstek schlüpften in diesem Projekt in die Rollen gleichaltriger Jugend­licher am Ende der Weimarer Republik und durchlebten auf der Basis einer an die örtlichen Verhältnisse angepassten Biografie die Jahre des Nationalsozialismus. Auch wenn die Mehrheit der Jugendlichen christlich orientiert war, nur wenige anfangs in der HJ oder im BDM Mitglied waren, funktionierten die Mechanis­men des Aufbaus der faschistischen Machtstruktu­ren auch in diesem ländlichen Ort des Südoldenburger Landes.
Die Jugendlichen entwickelten ihre Rollen anhand von Ereig­nissen, die vorgegeben wurden. So wurde die vierteljüdi­sche Mitschülerin der Schule verwiesen, wurde ein Mädchen wegen ihrer zwei behinderten Brüder sterilisiert, wurden die Jungen  gemustert und bald zum Militär eingezogen. Der erste Mitschü­ler starb an der Front, musste als Held für die anderen Jugend­lichen herhalten. Die Jugendlichen des Dorfes schwankten zwischen Anpassung und Widerstand. Einer brachte sogar den Mut auf, die vierteljüdische Judith zu verstecken und zu schützen. Doch mit steigendem Druck passte sich die Mehrheit an. Wer nicht den Weisungen folgte, geriet mit der Gestapo in Konflikt oder kam gar ins Jugenderziehungslager. Nicht alle Jugendlichen überlebten Faschismus und Krieg.

 

Hier der Beginn:

Erstes Kapitel: Das Schreibprojekt

„Meine Stiefmutter war in der ersten Ehe mit einem Homosexuellen verheiratet. Das kam heraus und er wurde umgebracht, von den Nazis...“
Dieser Satz sollte mein Leben gehörig auf den Kopf stellen. Ich hatte mir nie zuvor so viele Gedanken zu dem Thema gemacht, geschweige denn zu meiner Oma, zu der mir die Verbindung lange fehlte. Als ich sie vor einiger Zeit besuchte und sie zu einem Schulprojekt über die Zeit des Nationalsozialismus befragen wollte, kam wie immer kein Sterbenswörtchen über ihre Lippen. Seit Ende des Krieges hatte sie nie wieder gesprochen, sie hatte ihre Sprache verschluckt und verständigte sich nur noch über ein Nicken und Kopfschütteln. Der Krieg hatte etwas von ihr genommen, das sie nie wieder bekommen sollte: Die Fähigkeit, am Leben teilzuhaben und sich dessen zu erfreuen. Für mich war sie nur noch die alte verbitterte und schweigende Oma, die man aus Pflichtgefühl einmal im Monat besuchen musste (wovor ich mich die meiste Zeit zu drücken versuchte). Im Januar begann in unserer Schule ein Projekt, das meinen Eindruck von meiner Oma für immer verändern sollte. Das Projekt behandelte die Zeit des Nationalsozialismus. Wir mussten Geschichten schreiben und konnten Zeitzeugen zu Rate ziehen. Damals war mein Interesse für dieses uralte Thema, formulieren wir es mal nett, äußerst gering. Sagen wir es so, es war gar nicht erst vorhanden. Warum auch? Schließlich ist das alles schon ewig her und ich habe rein gar nichts damit zu tun. Ich kann ja auch gar nichts dafür und die Menschen haben doch daraus  gelernt, oder etwa nicht? Immerhin kann uns das heute nicht mehr passieren. Zurück zum Projekt: Um nichts selbst erfinden zu müssen und mir Arbeit zu ersparen, erzählte ich meiner Mutter davon und bat sie um Ideen. „Frag doch Oma Judith, du besuchst sie eh viel zu selten, Schatz!“, war ihr einziger Vorschlag und mir blieb nichts anderes übrig, als den Weg zu Frau Schweigen-ist-mein-Hobby anzutreten.
Und dieser ganze Aufwand nur, weil unsere Schule an diesem dämlichen Projekt teilnehmen musste.
Mit einem Stift bewaffnet erklang die trällernde, übereifrige Stimme von Frau Kleberiz. „Ihr habt nun etwa acht Tage Zeit für ein wunderwunder-wunderbares Projekt, hach, das wird etwas ganz ganz Fabelhaftes! Ich hab’s schon im Gefühl, das wird phä-no-meeee-nal! Nun gut, nun gut. Zu eurer Aufgabe: Es geht um ein sehr sehr dunkles Kapitel unserer Zeitgeschichte. Da waren die Nazis an der Macht, stellt euch das mal vor! Ich möchte, dass ihr euch in die Zeit zurückversetzt und aus der Sicht verschiedener Figuren eurer Fantasie freien Lauf lasst. Wenn ihr mögt, dürft ihr euch gern Zeitzeugen suchen und sie dazu befragen. So und nun auf die Stifte, fertig, los!“ Na das konnte ja heiter werden. Jedenfalls machte ich mich gleich am Nachmittag auf dem Weg zu meiner Oma. In ihrer Wohnung benebelte der Geruch von zigtausend Blumen und brutzelnden Pfannkuchen sofort meine Sinne. Sie saß wie immer einsam am Tisch, den sie immer für zwei Personen deckte. „Hallo Oma, isst Miezi mal wieder mit?“ Keine Reaktion, wie zu erwarten. Auch wenn ich wusste, dass sie nicht sprechen würde, erzählte ich ihr von dem Schreibprojekt. Keine Antwort.
Sie verschlang reglos ihre Pfannkuchen und ich verschwand, betäubt vom Blumenduft.
Es war ein regnerischer, trüber Tag und wir vertrieben uns die Zeit mit einem Filmemarathon. Mein bester Freund wollte mir gerade die neueste Schlagzeile aus dem Schullalltag erzählen, als es an der Tür klopfte. „Du hast einen Brief bekommen, Schätzchen. Ich fahr mal eben zu Bärbel rüber, bin zum Abendessen zurück“, trällerte Mama mit bester Laune und war im Nu verschwunden. „Zeig mal her, von wem ist der? Steht da wer auf dich?“ „Nein, natürlich nicht. Als ob.“ Der Brief war etwas vergilbt, es stand lediglich mein Name darauf. Beim Öffnen kam mir ein Blumendunst entgegen und ich wusste sofort von wem er war. Konnte das wahr sein?

„Lange Zeit war ich davon überzeugt, meine Lebensgeschichte bestünde aus Leere. Aus leeren Taten, leeren Versprechungen, leeren Worten, aus leerem Nichts. Ich hatte versucht die Leere auszumerzen, ihr einen Namen gegeben und sie vergraben. Was soll ich sagen, sie sucht mich bis heute heim, aber sie ist ein treuer und feiner Begleiter geworden. Aus all dem wirst du vielleicht noch nicht schlau und deswegen müssen wir ein bisschen in der Zeit zurückgehen, damit du deine stumme und bitterböse Großmutter vielleicht verstehst...“
„Zeig doch mal her!“ „Nein, besser nicht. Das ist ein Brief von Oma, scheint ihr sehr wichtig zu sein“, ich wusste nicht recht wie ich mit dem Brief umzugehen hatte, der schwer wie Blei in meinen Händen lag. Diese Seite von ihr kannte ich nicht. „Na schön, ich lese den Brief vor. Aber nicht lachen, das ist 'ne Privatsache meiner Oma. Du kriegst Ärger, wenn du auch nur einmal lachst.“