Geschichten hören und erzählen. Wie aufgeklärtes Denken und Handeln funktionieren kann (Veranstaltungsbericht von Artur Nickel)

Geschichten hören und erzählen. Wie aufgeklärtes Denken und Handeln funktionieren kann

Der Türkische Elternverein Ruhr ist bekanntlich ein Zusammenschluss von Menschen, die sich in Essen und anderswo darum bemühen, Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien zu fördern und ihre Bildungschancen zu verbessern. Ihm gehören viele Intellektuelle (vor allem Lehrer) an, die selbst eine Migrationsgeschichte haben, geleitet wird er in Essen von dem Arzt Dr. Ali Sak. Am Freitag, den 19.2.2010, hatte nun dieser Elternverein zu einem seiner regelmäßigen Treffen Jugendliche eingeladen. Sie sollten ihre Anthologie „Ruhrkulturen. Was ich dir aus meiner Welt erzählen möchte“ vorstellen, die vor kurzem erschienen ist. Sie sollten ihre Texte daraus lesen und so zur Diskussion über das Geschriebene anregen.
Für  Elmast Kaya, Muhammed Kaya, Cansu Agarmis und Farwa Ahmadyar, die stellvertretend für ihre Mitautorinnen und -.autoren diese Einladung angenommen hatten, sollte dies ein denkwürdiger Abend werden, ein Abend, wie man ihn wohl selten erlebt und nicht so schnell vergisst. Sie lasen jeweils einen Text, und es wurde daraus ein abendfüllendes Programm. Woran das lag? Elmast, Mohammed, Cansu und Farwa schnitten Themen an, die den etwa dreißig bis vierzig Zuhörern wichtig waren. Es war offensichtlich: Wenn es um eine etwaige Zwangsheirat geht, die Rolle des Vaters in der Familie, um die Ausländerfeindlichkeit in der Schule oder um die Aufnahme von Flüchtlingen in der Bundesrepublik, dann geht es alle an. Und entsprechend offen und intensiv wurden die angesprochenen Fragen miteinander diskutiert.
Erstaunlich war, dass sich auch viele Erwachsene in den Texten der Jugendlichen wiederfanden. Vielfach erzählten sie ähnliche Geschichten. Hat sich etwa da im Laufe der Jahre nichts verändert? Geschichten hören und erzählen – zwei Seiten einer uralten Erzähltradition, die auch in Deutschland einmal weit verbreitet war und der man im Interesse unserer Kinder und Jugendlichen wieder mehr Zukunft wünschen würde! Eine Tradition, die oft genug zu aufgeklärtem Denken und Handeln geführt hat. Ganz anders als das dumpfe kinderfeindliche Sozial-Geblubber, das seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz IV die Führungsetagen unserer Bundesrepublik und die Medien erfüllt.
Kinder und Jugendliche sind Kinder und Jugendliche, sind gleichberechtigte und gleichwertige Menschen, auch wenn sie noch nicht voll geschäftsfähig sind und ihre Eltern an vielen Stellen für sie eintreten müssen. Das sagt unser Grundgesetz, das sagt unsere aufklärerische Tradition. Sie sind Leistungsträger und nicht Leistungsempfänger. Denn sie tragen unsere Zukunft auf ihren Schultern. Dafür verdienen sie unseren Respekt und unsere uneingeschränkte Unterstützung. Gerade auch diejenigen, die aus „Hartz-4-Familien“ stammen oder die vielleicht schwierig sind.
Der Türkische Elternverein Ruhr in Essen hat bei seiner Veranstaltung mit den vier Jugendlichen auf bemerkenswerte Weise gezeigt, wie aufgeklärtes Denken und Handeln funktioniert. Zum einen wurde erzählt und zugehört, zum anderen wurde darüber nachgedacht, wie man gerade jungen Leuten, die in Migrantenfamilien groß werden, besser helfen und sie stärken kann. Mehr muttersprachlicher Unterricht an den Schulen? Mehr Lehrkräfte mit Migrationshintergrund zur besseren Verständigung mit der Elternschaft? Mehr Väter, die die Liebe zu ihren Töchtern und Söhnen über ihre Tradition stellen und diese entsprechend weiterentwickeln? Mehr Lehrerinnen und Lehrer, die (rechtzeitig) eingreifen, wenn in ihren Klassen Kinder gemobbt und aufgrund ihrer Hautfarbe und/oder ihrer Kultur an den Pranger gestellt werden? Mehr Sensibilität und Engagement im Umgang mit jungen Menschen, die bei uns politisches Asyl suchen? Da gibt es noch viel zu tun, und jeder nahm „sein Päckchen“ mit.  
Ganz wichtig aber war den Zuhörerinnen und Zuhörern etwas anderes, und das beherrschte an vielen Stellen das Gespräch. Sie lobten die vier Autorinnen und Autoren für das, was sie mit ihren Texten geleistet hatten. Ein Lob, das von Herzen kam, das ehrlich war und nicht, wie so oft, taktischem Kalkül entsprach. Das merkten die vier und riss sie geradezu mit. Klar, dass Elmast, Mohammed, Cansu und Farwa weiterschreiben! Klar, dass sie wiederkommen! Klar auch, dass sie alles daransetzen werden, ihre schulischen Ziele zu erreichen!
Eine tolle Veranstaltung, die beispielhaft gezeigt hat, wie mit Kinder und Jugendlichen in einer aufgeklärten Gesellschaft umzugehen ist! So kann es weitergehen! So können auch die Schwierigkeiten, die es unbestreitbar im Umgang mit jungen Menschen gibt und die Erwachsenen das Leben schwer machen, angegangen werden! Allerdings sollte das dumpfe kinderfeindliche Geblubber abgestellt werden, das derzeit die Bundespolitik beherrscht. Wünschenswert wäre es auch, wenn so mancher „Westerwelle“ – aus welcher Partei auch immer – endlich selber Leistungsträger würde. Jeder an seinem Platz. Mal in seiner Jugendzeit auf einem Motorrad gesessen oder gar ein Elitegymnasium besucht zu haben, ist eben noch keine Leistung und berechtigt nicht dazu, schadlos den Mund zu öffnen! Es ist eher Anlass dazu, unsere Kinder und Jugendlichen darüber abstimmen zu lassen, wem gegenüber sie den vielzitierten Generationenvertrag erfüllen wollen! Denn sie bilden den Maßstab für unser Denken und Handeln, und zwar alle, egal, woher sie stammen und welchen Rechtsstatus sie bei uns haben.   

Elmast Kaya: 18 oldum
Mohammed Kaya: Mein Navigationssystem
Cansu Agarmis: Reise mit Hindernissen
Farwa Ahmadyar: Die Worte reichen nicht

aus
Ruhrkulturen. Was ich dir aus meiner Welt erzählen möchte
Vechta 2009
ISBN 978-3-86685-202-0
12,00 Euro

artur nickel   

Bochum, den 21.2.2010