Hannah Stehling, 15 Jahre, Mainz - Mein schlimmster Freund

Hannah Stehling, 15 Jahre, Mainz
Mein schlimmster Freund

Am Anfang war die Stille mein Freund. Zart strich sie über meine ausgekühlte Haut. Brachte Ruhe in die verschlunge-nen Wege des Alltags, Pausen, wo keine Pausen waren, ein Stehenbleiben und Innehalten. Wie die Berührung einer kalten Hand. Haut an Haut schmiegte ich mich an sie, streckte mich nach ihr, voller Wonne, wollte sie bergen, angenehm. In meinem Bauch, an meinem Hals, an meinen Lippen. Die Schulterblätter hinab, bis zu den Knien. Ich ba-dete in ihr, wenn niemand zusah, sehnte mich nach ihr, wenn alle Blicke auf mir ruhten, schloss sie weg, um sie nur für mich zu behalten. Die Stille war mein Freund. Die Schritte auf der Treppe, das permanente Rauschen der Autos, das Klicken der Tastatur, die grausam gedämpften, streitenden Stimmen meiner Familie. All das war sie bereit, für mich aufzunehmen, mich davor zu schützen – mein Freund, die Stille.
Doch nicht nur Menschen ändern sich. Auch die Stille tut es. Vom sanften Kühl ist nichts übrig geblieben. Sie schneidet. Piekst still und schadenfroh in meinen Bauch, meinen Hals, meine Lippen. Kriecht die Schulterblätter hinab, bis zu den Knien. Rankt sich voll Wonne um meine Lunge, bis es mir schwerfällt zu atmen.
Die Menschen denken noch immer, sie sei mein Freund, doch sie hat sich längst zu etwas viel Schlimmeren entwi-ckelt – einem Besessenen.