Heike Avsar - Ein gebrochenes Herz (Literatur in schwierigen Zeiten)



Ein gebrochenes Herz

In der vergangenen Woche erreichte mich die Nachricht vom Tod einer alten Dame. Seit vielen Jahren saßen wir bei familiären Zusammenkünften an einem Tisch, wenn sie zu Besuch in Berlin war. Ich unterhielt mich gern mit ihr, weil sie ein so liebenswerter, positiver Mensch war und aus ihrem langen Leben viel zu erzählen hatte.
Trotz ihrer neunzig Jahre war sie geistig und körperlich fit, verrichte so gut es ging den Haushalt, kochte, putzte, interessierte sich für das Weltgeschehen – und vor allem für ihre große Familie, zu der vier Töchter, Schwiegersöhne, eine Vielzahl von Enkeln,  Urenkeln, Nichten und Neffen zählte. Immer schaute irgendjemand aus der Familie bei ihr vorbei oder holte sie zum Nachmittagskaffee zu sich. Jeder anstehenden Familienfeier sah sie mit Vorfreude entgegen. Müdigkeit? Ein Fremdwort. Erst wenn die Musiker ihre Instrumente einpackten, wurde sie sozusagen mit aus dem Saal gefegt.
Wenn sich über dreißig Familienmitglieder alljährlich zur gemeinsamen Radtour durch die ländliche Gegend trafen war auch Oma Gerda dabei. Als Beifahrerin im Auto war sie für Speisen und Getränke zuständig, die bei jeder Rast an die müden Radtour-Teilnehmer verteilt wurden. Selbst beim abendlichen Lagerfeuer auf dem Bauernhof - stets der Abschluss der Radtour - wollte sie erst nach Hause wenn das Feuer erloschen war und alle sich zur Nachtruhe begaben.
Und dann kam „Corona“ und brachte die sofortige Kontaktsperre zur großen Familie, die doch ihr Lebenselixier war, mit sich.
Die Einkäufe wurden nun von einer der Töchter verrichtet und vor die Tür gestellt. Selbst die täglichen Spaziergänge durch das Dorf und der Plausch mit den Nachbarn am Gartenzaun gehörten nun der Vergangenheit an. Stattdessen zog die Einsamkeit bei ihr ein.
Wenn man sagt, dass jemand an gebrochenem Herzen gestorben ist, so trifft es auf Oma Gerda zu, die zwei Tage nach ihrem Zusammenbruch im Krankenhaus lag, ohne ihre Familie noch einmal sehen zu dürfen, bis ihr Herz dann stehengeblieben ist.
Und wenn ein alter Mensch, der genauso am Leben hängt wie ein junger, sich anhören muss, wie der Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, sagt: „Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären, es müsse unterschiedliche Sicherheitsvorkehrungen für Jung und Alt geben“, dann frage ich mich tatsächlich, wo die Würde des Menschen bleibt, die unantastbar ist.
Denkt ein Boris Palmer, dass alte Menschen weder Zeitung lesen, noch Radio hören oder fernsehen und solche empathie- und geschmacklosen – ja, menschenverachtenden Äußerungen, sie nicht erreichen? Auch sie waren einmal jung, haben den Krieg miterlebt,  hart gearbeitet – härter als ein Boris Palmer es wahrscheinlich jemals muss.
Vielleicht wäre Oma Gerda ohnehin gestorben, vielleicht aber auch nicht. Niemand weiß es. Und doch ist es das Allerletzte, bei alten Menschen in ihrer momentanen Einsamkeit auch noch Ängste zu schüren, den Lebensmut zu nehmen und ihnen praktisch ins Gesicht zu sagen, sie seien weniger wert, weil sie alt sind. 

Heike Avsar