Heiko Schulze - Freispruch mit Gewissen. Meine Gesinnungsprüfung als Kriegsdienstverweigerer (mal etwas andere Literatur in schwierigen Zeiten)

Heiko Schulze
Freispruch mit Gewissen
Meine Gesinnungsprüfung als Kriegsdienstverweigerer

Plötzlich öffnet sich eine sterile Tür im Kreiswehrersatzamt, Meller Straße 270. „Eintreten!“, ruft eine schneidige Stimme aus dem Inneren. Es ist soweit! Wie lange habe ich mir das vorgestellt? Die „Anhörung“ des „Wehrpflich¬tigen“ Heiko Schulze, vorgeladen durch den Prüfungsausschuss IV für Kriegsdienstverweigerer beim Kreiswehrersatzamt Hannover, Registrier-nummer HA 3.157/73(54)-214, kann starten.
Ich darf mich setzen. Mein Blick gegenüber fällt auf vier ältere Herren, deren Namen wie Schall und Rauch durch meine Gehörgänge fliegen. Mit allen wechsle ich einen kalten Händedruck. Ich schwitze.
Vor gut zehn Monaten hat alles noch locker ausgesehen. Ich saß mit einem guten Dutzend anderer, Unterhosen-tragender Gleichaltriger in einer Mischung aus Warteraum und Umkleidekabine. Einbestellt hatten uns Vaterlandsverteidiger, die unsere Tauglichkeit für den Wehrdienst an der Waffe prüfen sollten. Ich hatte geschludert. Eigentlich hätte ich längst einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung stellen wollen. Denn dass ich zur Bundeswehr ginge, war jenseits meiner Vorstellungskraft. Töten lernen für ein kapitalistisches System, dass ich als aktiver Jungsozialist schnellstmöglich in ein demokratisch-sozialistisches verwandeln will? Nicht mit mir!
Nach der Musterung erfahre ich, dass ich, anders als die andere Hälfte der Gemusterten, „tauglich“ bin. „Ersatzreserve I“. Erst danach stelle ich, ausführlich begründet, meinen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung.
„Nun berichten Sie mal, warum wollen Sie den Wehrdienst verweigern!“, unterbricht der ruhige Vorsitzende, Herr S., meine gedanklichen Ausflüge. Ich atme durch. Denn meine Antwort soll lang sein. All das, was ich hier vortragen will, habe ich geübt. Mit linken und Bundeswehr-kritischen Lehrern des Ratsgymnasiums zum Beispiel, die mich auch beim Aufsetzen meiner schriftlichen Begründung prima beraten haben. „Bloß nichts Politisches sagen, erst recht nichts Kapitalismuskritisches“, hatte mir Deutschlehrer Christoph M. schon vor Monaten im Café Brüggemann geraten. Denn das wusste ich auch aus der Vorbereitungsliteratur, die ich inhaliert hatte wie Fragebogen für eine Führerscheinprüfung. „Lieber Heiko,“, sagt mir nun mein inneres Ich, „jetzt bloß nichts gegen den Kapitalismus, nichts zu meiner linken Einstellung, bloß nichts gegen die NATO, bloß nichts gegen die 1956 gegen fetten Widerstand aufgebaute Bundeswehr!“ Denn eines weiß ich: Statistisch stehen meine Chancen heute 50:50. Exakt die Hälfte aller Delinquenten werden vor solchen Ausschüssen, das ist mir aus vielen Lektüren und leibhaftigen Zeugenberichten bekannt, ausdrücklich „nicht anerkannt“.
„Begründen Sie ganz allein, in welche Gewissensnöte Sie geraten!“, kamen mir die Worte von Lehrer Christoph M. in den Sinn. Ich nicke still vor mich hin, hole Luft und trage also vor:
„Schon als Kind habe ich mich nie geprügelt“, fange ich an. „Müsste ich jemals Gewalt anwenden, bekäme ich einen Gewissenskonflikt. Und dann habe ich mich dem Thema ‚Krieg‘ lange auseinandergesetzt, zum Beispiel auch ‚Im Westen nichts Neues‘ gelesen und …“
„Können Sie sagen, was Gewissen ist?“, unterbricht mich einer der Beisitzer. Auf die Frage habe ich, den fertigen Text im Kopf, gewartet. „Gewissen ist mein inneres Gesetzbuch, das mir sagt, was richtig und was falsch ist“, kommt es wie, sorry, „aus der Pistole geschossen“. Denn das steht so wörtlich in meiner Begründung, für mich verfasst von Lehrer Christoph M.
Und dann kommt der Moment, in dem ich vor mir selbst erschauern werde. Denn ich spreche auswendig gelernte Sätze mit dem alleinigen Zweck, alles schnell und erfolgreich hinter mich zu bringen. Voraus geht den elenden Textbausteinen die erwartete Frage „Haben Sie sich auch mit dem Pro und Contra auseinandergesetzt?“
„Selbstverständlich!“, rufe ich, ohne auffällig zu erröten. „Die Bundeswehr schützt unser Land, und die Abschreckung ist ein Garant dafür, dass es keinen Krieg gibt. Und ganz egoistisch weiß ich sogar, dass mir die Bundeswehr helfen würde, einen Führerschein und sogar eine gute Ausbildung zu machen. Nur: Ich kann mich nicht zum Töten ausbilden lassen, leider nicht, mein Gewissen…“ Ich schlucke.
„Gibt es für Sie denn Alternativen zur gewaltsamen Verteidigung?“, insistiert ein anderer Beisitzer. „Vielleicht gewaltloser Widerstand, wie 1923 bei der Ruhrbesetzung, bei Mahatma Ghandi oder im Prager Frühling“, habe ich mir als postwendende Antwort überlegt. Mein Gegenüber, seines Zeichens Realschulrektor und Sozialdemokrat des äußersten rechten Parteiflügels, donnert mich völlig unerwartet an: „Da ist das Wort ‚Widerstand‘ völlig missbraucht!“, poltert er – und stiert missmutig auf mein knallrotes Abzeichen, den selbst gesägten Pfeil vom linken Sozialdemokratischen Schülerbund. Ich schlucke. Alles vergeblich? War meine Antwort falsch?
„Welche Strategie, gewaltsam oder gewaltlos, ist denn nun für Sie die richtige?“, erlöst mich der sachlich gebliebene Vorsitzende S. aus meiner Pein. Ich kann wieder durchatmen und erinnere mich an Opportunismus-Text Nr. 2.
„Ich muss mich mit dem Thema auf sachlicher Ebene noch mal intensiver befassen. Für mich ganz persönlich gilt aber heute nur ganz allein dies: Ich selbst will nicht töten!“
Dann kommt die zentrale Frage, mit der ich gerechnet habe: „Wie würden Sie sich denn in Notwehrsituationen verhalten?“ Dankenswerterweise fragt Herr S. jetzt nicht nach meinem Verhalten infolge eines Angriffs auf meine Mutter, während ich zufällig eine schussbereite Maschinenpistole zur Hand habe. Derartige Fragen haben schon viele Antragsteller in die Kasernen befördert. Aber ich habe ja geübt:
„Ich weiß, wie furchtbar das ist“, stöhne ich beinahe den Tränen nahe. „Vielleicht würde ich mich wehren, vielleicht auch nicht. Was aber auf jeden Fall für immer zerstört wäre, wäre mein inneres Wertesystem. Das ist ja nun einmal der Grund, warum ich als Soldat niemals in eine solche Situation geraten möchte.“
Außer dem rechten Sozialdemokraten, der unverändert verdrießlich und errötet guckt, nicken plötzlich alle übrigen vor sich hin.
„Danke!“, sagt der Vorsitzende. Ich schlurfe hinaus.
Draußen treffe ich den rothaarigen Klaus P. mit seiner langen Mähne. Er ist nach mir dran, erzählt mir irgendetwas über die Gefahr von Atomkriegen. Der Small-Talk dauert nicht lange. Ich werde wieder ins Vernehmungszimmer gebeten und erfahre, dass ich soeben als Kriegsdienstverweigerer anerkannt worden bin. Ein Felsgebirge fällt von meinem Herzen.
Dem rothaarigen Klaus P. wird es nicht so gut gehen. Er wird nach mir nicht, wie ich, eine halbe Stunde in die Mangel genommen, sondern volle zwei. Und danach abgelehnt. Im zweiten Verfahren wird er es aber schaffen. Sicher, weil er besser vorbereitet sein wird. Beide begegnen wir uns im Herbst 1975 wieder. Beim „Ersatzdienst“ in den Städtischen Kliniken.