Helene Baur - ICH-MASCHINE

Helena Baur (Rösrath, 18 J.) / Siegertext des 3. Vechtaer Jugendliteraturpreises

hier auch als Adiodatei

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ICH-MASCHINE

1
FOTOALBUM
Ich war ich. Ist schon eine Weile her. ich mit den anderen bei dieser Feier. ich bei der Demo. ich im Ausland. Ausland … Land, von dem ich nicht mehr weiß, ob es noch Aus- oder schon Inland ist. Dazwischen-Land. KEINE NEUEN FOTOS. Im Rücken die Ruinen von Europa. Wer nicht aufgegeben hat, kämpft um das eine. EINES. Ein Screenshot. Kein rich-tiges Bild. Das richtige Bild von heute. Mein Lieblings-Avatar. Wer aufgegeben hat, kämpft weiter. Alle müssen kämpfen. Diese Eigenschaft kannst du nicht verstellen beim Einstellen deiner Figur. Ich lasse das raus, was nicht rein-kommen konnte. ich habe meine Haustüre seit sicherlich zwei Wochenmonaten nicht geöffnet. Ich steche, schubse, ziele, schieße, drehe, laufe, springe, ducke, stemme, morde, töte, hasse, gewinne. GEWONNEN. ich war Ich, aber jetzt bin Ich ein neues Ich. Das neue Ich kann sich besser verteidi-gen. NEUE NACHRICHT. Hier kommt das Gespenst, das Mich gemacht hat. Es kommt nicht oft, meistens denkt auch ein anderes Ich. Die Welt, die nicht mehr da ist, klopft an. Mein erstes ich hat sie kaputt gemacht, zusammen mit vie-len anderen ichs. wir haben gestunken, gelebt, gestrebt. es hat gebebt, gefegt und ist gesunken. Wie es draußen aus-sieht, weiß ich nicht. ich habe keine neuen Fotos davon. ich tippe, schicke, bin genervt. Wieso lässt man Mich nicht al-leine? RESUME. ich spiele Mich. ich bin unbedeutend, ich kann aussuchen, wie Ich bin und wie Ich gesehen werde. Ich kenne keine Emotionen.
2
ZERSTÖRUNG
Das andere Ich reibt sich die Hände, geht drei Schritte vor, dreht sich zu Mir. Es zieht ein Schwert, Level 2020. Ein Witz.
EIN ANDERES ICH:    Ich bin Ich. Ich kann nicht aufhören, mich zu töten und Mich zu töten. Die Simulation belebt Mich. Alle wollen vergessen und die, die erst lernen, werden einfach nicht erinnert. ich will, dass Du Mich magst. Ich brauche kein Geld. Was soll Ich denn kaufen? Ein besseres Schild? Ich wehre mich nicht mehr. ich war ein Opfer. Dieses Ich schlägt zurück. ich wurde ausgegrenzt, ausgemustert, ausgezogen, ausgelacht. Ich bin gewaltvoll und stark. Ich hasse alle anderen. GAME OVER.

3
TRAUM IM TRAUM
Kultur und Natur sitzen in einem Sandkasten. Neben ihnen steht ein Herz, um das mit menschlich scheinenden Rippen ein Gitter gebaut ist. Nebel zieht auf und wird immer dichter. Weit entfernt spielt eine traurige Melodie ohne Rhythmus.
KULTUR:        ich langweile mich so schrecklich.
NATUR:        Verleugne dich nicht. FEHLER. dich gibt es wenigstens noch. Wer sich verändern kann, bleibt am Leben.
KULTUR:        Von wegen! mich noch geben … Wo sind meine Theater? Wo stehen meine Kinos? Wer hat mei-ne Museen zerbombt? Wer hat die Bücher verbrannt und wer hat den Einheitsbrei erfunden, den alle essen?
NATUR:        Du bist, was sie machen. sie sind ja anders als erwartet noch da; Sie sind woanders als früher – ja – aber du lebst jetzt da, wo Sie sind. VOR, ZURÜCK, SPRINGEN, WAFFE ZIEHEN. Das bist Du!
KULTUR:        Komm mit Mir! Lass Uns tanzen! du bist, wo Sie alle sind. sie haben dich verletzt, verdorben und verlassen, aber du musst ja auch verzeihen. Hast du sie nicht geschaffen? BAM. BUM. KLIRR. Komm mit und sei die Natur, die Umgebung von morgen: komm mit mir, wir krab-beln in die Steckdosen, durch die Kabel, auf die Bildschirme, in die Brillen und dann sind wir bei Denen, die mal men-schen waren.
Natur und Kultur fassen sich an den Händen und hüpfen ver-gnügt aus der Realität. Blaues Licht strahlt den dichten Nebel an.

4
SCHLACHT UM DAVOR UND DANACH
ICH:            Es läuft. Solange es problemlos läuft, habe ich kein Problem. HIT. HIT HARDER. Ich habe den Le-vel abgeschlossen. Ich weiß nicht, ob Ich Mich darüber freuen soll – FORTSCHRITT. FRÜHLING. Ich liebe die Jahreszei-ten. FRÜHLING AUSGEWÄHLT. Ich mag die Blumen, man kann Sie sammeln und gegen eine bessere Ausrüstung eintauschen.
iCH:            ich konnte Blumen riechen. ich konnte sie anfassen. ich habe den leichten Wind in meinen Haa-ren gespürt. Seit ich Ich bin, kann ich nicht mehr fühlen. Aber Ich bin sicher, Ich bin vernetzt mit anderen Ichs. Früher kannte ich andere ichs. die waren fehlerhaft: schwach, an-ders, abhängig. mein Drama findet nicht mehr statt. Meines auch nicht mehr! OFF. Bildschirme schwarz. KLICK. KLICK. hektisch. Ich bin nicht abhängig, nein, nein, NEIN.
Bildschirme bleiben schwarz. Das war noch nie da! Früher – ja – aber das ist schon eine Weile her. Wer bin ich? ich habe mich an Mich gewöhnt. Muss ich jetzt nach draußen? Wo geht es hier raus? Was ist draußen?
Explosionsgeräusche und fröhliche Musik.
    ich will schreien, aber das habe ich seit einer Weile nicht mehr gemacht. Wie geht das nochmal? ich kann den EB, den Einheitsbrei, zu mir nehmen, als würde ich die maschine hinter der Maschine boosten. AKKU LEER. ich kann den EB ausscheiden. ich muss mich dafür nicht bewegen. Den Rest habe immer Ich gemacht. Oder Ich. Wenn Ich etwas nicht konnte, habe ich den Avatar gewechselt. KEIN STROM. NIRGENDS. NIE WIEDER.

5
TRÜMMER
Natur und Kultur stehen links. ich stehe rechts daneben. rechts neben mir bin Ich. Natur und Kultur tanzen verliebt miteinander. sie küssen sich. ich nehme Meine Hand und hebe Meinen Arm.
iCH:            Tanz für mich. Zeig mir, wie toll Ich tanzen kann!
Die Kultur lacht laut auf.
KULTUR:        Zwei Welten, das kann auf Dauer nicht gut gehen. Ach, könnten wir doch unsere irdische Hülle verlassen, die Hülle, die nur noch zum Knacken und Kacken da ist, und lass uns krabbeln durch die Kabel, uns auf-lösen in der wireless-Verbindung und verschwinden.
NATUR:        ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe.
ICH:            Ich kann heute so viele Ichs erschaffen wie Ich will. Ich kann Meine Regeln selber schreiben. Ich kann töten, wen Ich will. Es gibt mehr als das eine Leben. Es lebe der Hass, die Verachtung, der Aufstand, der Tod.
Ich gehe auf die Natur los und beginne, sie zu schlagen. Ich will sie töten, bis sie sich nicht mehr regen kann. Die Natur versucht sich zu wehren. Süß. Plötzlich springen die Kultur und ich auf, ich greife mir Mich, die Natur sich die Kultur und wir bringen die beiden auseinander.
iCH:            ich bin nicht Ich. Nicht, wenn ich ehrlich zu mir bin.
Die Natur sinkt in sich zusammen, greift dann nach Meiner Hand und verharrt in dieser Position. Die Kultur nimmt mich Huckepack und wir reiten der untergehenden Sonne entgegen.

 

Helena Baur (Rösrath) – ICH-MASCHINE
Helena Baur, 2002 in Köln geboren, engagierte sich während der Schulzeit in Literatur- und Theater-AGs, war in der Spielzeit 2019/20 für eine Produktion am Theater Bonn engagiert und studiert aktuell Linguistik und Phonetik sowie Medienkulturwissenschaft an der Universität zu Köln. Neben Kurzprosa und Songtexten schreibt Baur vor allem kurze Theaterstücke und Monologe.

 

 

Ich in meiner Welt von morgen

Preisträger*innen und ausgewählte Teilnehmerinnen

des Wettbewerbs der Stadt Vechta und des Geest-Verlags

Herausgegeben von Louisa Bergmann, Olaf Bröcker,

Alfred Büngen, Luisa Maureen Chilinski, Kim Karotki und Oliver Kausch

Coverbild von Miriam Bornewasser Geest-Verlag 2020

ISBN 978-3-86685-784-1

400 S., 14,80 Euro

 Erstmals wurde der Vechtaer Jugendliteraturpreis im Jahr 2020 als gemeinsamer Wettbewerb der Stadt Vechta und des Geest-Verlags für Autor*innen von 14 bis 21 Jahren nicht nur regional, sondern im gesamten deutschsprachigen Raum ausgetragen. Mit deutlich über 400 Einsendungen wurden die Erwartungen an den Wettbewerb mehr als übertroffen. Autor*innen aus allen Teilen der Bundesrepublik, aus Österreich, der Schweiz und sogar Italien schickten Beiträge in verschiedensten litera­rischen Formen. Die Herausgeberjury hatte die Mög­lichkeit, jeden der Beiträge mit bis zu 10 Punkten zu bewerten. Aus der Summe der Bewertungen ergab sich dann das Gesamturteil und die Platzierung jedes Teilnehmers. Mehr als 100 Teilnehmer‘innen gelang der Sprung in die Anthologie. Die jungen Autor*innen gehen die Thematik der Positio­nierung des Ichs in einer zukünftigen Gesellschaft inhaltlich sehr unterschiedlich an, individueller Aufbruch oder gesellschaftliche Wandlung, durchgehend gibt es eine kritisch-skeptische Haltung gegenüber der Zukunft, auch wenn das Selbstbewusstsein einiger Teilnehmer*innen den Willen zu einem Leben im kritischen Miteinander einer Gesellschaft unter Beweis stellt. Bemerkenswert ist neben der inhaltlichen auch die literarische und sprachliche Gestaltungs­vielfältig­keit. Das hohe Niveau der Texte zeigt an, dass es unzählige literarische Talente gibt, die erfreulicherweise individuelle Wege des Schreibens einschlagen.