Heute im Druck: Geschwister-Anthologie zum Brüggener Literaturherbst

Heute in Druck

 Geschwister
Anthologie zum 'Zweiten Brüggener Literaturherbst'
Geest-Verlag, Vechta-Langförden, 2008
ISBN 978-3-86685-141-2
12,50 Euro

 




Ellen Roemer

Geschwister

 

Eingehüllt in Gemeinsamkeiten?

Im ständigen Kampf, kapituliert vor den
Erinnerungen?

Vertrauen gefunden, Unterstützung ertrotzt - ein
Wunsch nur?

 

Nicht alleine zu sein
- ist es das, was das Leben mit Geschwistern ausmacht? Geliebt werden? Unterstützung zu erfahren
in Trauer und Not?

 

Der Blick geht vor und zurück.

 

War es nicht eher so, dass es nur Streit gab?
Streit um die Zuneigung der Eltern, Streit um ihre Anerkennung? Streit auch um
Räume und Freiheiten?

Waren nicht meine Freunde immer deine Feinde?

 

Ich will mir einreden, dass wir keine
Gemeinsamkeiten haben. Lass mich in Ruhe, du verstehst mich nicht. Steckst
nicht in meiner Situation. Du hast mich hintergangen, angeschwärzt. Du bist es
gewesen, der mein Geheimnis preisgegeben hat.

 

Selbst wenn es da nicht mehr ein Wort gibt, das wir
miteinander spre­chen, so bleiben doch die Gemeinsamkeiten, die mich zu dem
werden ließen, was ich bin. Auch wenn es trennende Gemeinsamkeiten sind.

 

Die Eltern waren das Bindeglied und auch die, die
uns trennen. Unserer Eifersucht sind wir
entwachsen, denn jetzt gibt es nur noch uns. Ich schaue auf deine Hände und
sehe die jungen Hände unseres Vaters, blicke in die Augen unserer Mutter. Wir
sind sie und nun werden wir miteinander älter.

 

Ein Satz, beiläufig gesprochen,
vielleicht nur ein Wort, löst in uns Momentfetzen der vergangenen Jahre aus.
Ich lese es in deinem Ge­sicht. Wir denken an denselben Augenblick. Der Augenblick,
in dem sich alles veränderte?

Bist du gegangen und in Gedanken geblieben - bist
du geblieben, um in Gedanken fortzugehen?

 

Doch kommt es anders.

 

Ich sitze auf der Bordsteinkante. Ganz unten. In
Enttäuschung gefan­gen. Bedroht oder einfach einsam. Habe keinen Hafen. Drohe
zu ertrin­ken - auch in Selbstmitleid.

Dein „für mich da sein" wirft einen wohltuenden
Schatten auf meine brennende Seele.

 

Unsere Hände finden sich. Wir halten uns ohne
Worte. Wir blicken auf viele gemeinsame Erfahrungen zurück,
auch wenn du die gleichen Ereignisse anders empfunden hast, kennst du
den Ausgangspunkt meines Denkens. Deine Ratschläge sind auf einmal nicht mehr
laut und bestimmend, sondern einfühlsam und stärkend. Es ist so weit, ich
möchte meine Verantwortung abgeben. Nur eine kurze Zeit, um Luft zu holen.
Möchte nicht entscheiden müssen.

 

Ich spüre es: Ich bin nicht allein.

 

Dein Anderssein wird mich immer erstaunen. Da gibt
es Momente grenzenloser Bewunderung. Ich lausche auf deine Worte, kann kaum
glauben, was ich höre.

 

Kann auch ich dir diesen Halt geben? Ich, die
Kleine? Ich spüre ein „ja" und es fühlt sich
gut an.

 

Wie das Pendel einer Uhr schwingen wir zwischen den
tristen und den klaren Phasen. Einmal wird es stehen bleiben, das Ziffernblatt,
mit einem schwarzen Tuch verhangen. Doch bis dahin hatte alles seine Zeit.

 

Unsere Lebensfäden, die miteinander verschlungen
sind, können zu einem bunten Teppich werden, der alle Eigenarten zulässt und
zum behaglichen Tummelplatz für unsere Nachkommen wird.

 

Das Dunkle lässt das Helle leuchten.

 

Wir können uns sehen lassen!

Alleine und gemeinsam.

Gleich und anders.

Du und ich.