Im Endlektorat - Werner Lutz - In der Warteschleife



Werner Lutz, Jahrgang 1954, war bis 1988 Verwaltungsbeamter bei der Stadt Erlangen.
Durch eine dienstliche Abmahnung schon frühzeitig mit dem Prädikat „überempfindliches Demokratieverständnis“ ausgezeichnet.
1988 freiwilliges Ausscheiden aus dem Öffentlichen Dienst. Tätigkeit als Journalist, danach arbeitslos, seit 1990 wieder im Öffentlichen Dienst als Arbeiter.
Ab Ende der 70er erste kulturelle Aktivitäten als Liedermacher. Zahlreiche Auftritte in der Friedensbewegung, bei Streiks, Betriebsbesetzungen und Demos gegen Nazis – bundesweit, vor allem aber in Franken.
Seit Anfang der 80er auch Verfasser von Satiren und Kurzprosa. Seit 1993 Herausgeber des Deutschen Einheiz-Textdienstes, eines monatlich erscheinenden Satire-Rundbriefes mit Monologen, Dialogen, Aphorismen und Sachtexten zu aktuellen politischen Themen.
Seitdem regelmäßig zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitungen, Satirezeitschriften,
Anthologien, Kalendern und anderen Publikationen.
Als eigene Buchveröffentlichungen erschienen
• „Gute Besserung Deutschland“ (Ein Vorlesebuch mit Böse-Nacht-
Geschichten für den deutschen Michel / 80 Seiten, im Eigenverlag)
• Reformparadies Deutschland (Satire-Anthologie, 160 Seiten, Geest-Verlag)

 

In der Warteschleife

Es ist die Zeit der ersten großen Flüchtlingswelle in Deutschland. In vielen Städten
gibt es im Sommer 2014 Notaufnahmelager. Flüchtlinge werden provisorisch
untergebracht in Zeltstädten, oder sie schlafen in den heißen Sommerwochen sogar
ungeschützt im Freien, wie in München.
Das Wort „Willkommenskultur“ gibt es bereits. Aber neue Beispiele und eine
humanistische Haltung, die diese Willkommenskultur vor allem im darauf folgenden
Jahr in ganz Deutschland prägen werden, gibt es schon in diesen Sommerwochen
2014.
Mit zahlreichen Sach- und Geldspenden von Bürgerinnen und Bürgern – mit der offenen, aufgeschlossenen (und manchmal versteckten) Neugier gegenüber den fremden Kulturen und Religionen. - Und mit teilweise chaotischen Zuständen in schnell zusammengebauten Notaufnahmelagern, in denen Behördenmitarbeiter und Ehrenamtliche von Hilfsdiensten gemeinsam die massenhafte Aufnahme und
Versorgung der ankommenden Flüchtlinge bewältigen.
Hans, ein älterer Verwaltungsangestellter einer Stadtverwaltung, wird zusammen mit einer Kollegin ad hoc für einige Wochen zur Leitung des örtlichen Notaufnahmelagers bestimmt. Ein renovierungsbedürftiges Freibad, das wegen Sanierung geschlossen werden soll, bietet die Möglichkeit, eine kleine Zeltstadt aufzubauen. Feste Bauten mit sanitären Anlagen und Büros sind vorhanden.
Hans und seine Kollegin sind die zweite „Garnitur“ von dienstverpflichteten Mitarbeitern. Die ersten zwei hatten die schwierigste Zeit gehabt: den Aufbau, die Einrichtung des Lagers, sowie den Tagesablauf mit Essen, Verwaltung, Freizeitmöglichkeiten und ärztlicher Versorgung zu organisieren. Bevor Hans anfängt, erfährt er bei einem Rundgang mit den vorherigen Verwaltern, dass sie sich also ruhig ins gemachte Nest legen können. Es läuft alles…
Dass dem nicht so ist, erfährt Hans bereits am ersten Tag. Trotzdem: die Zeit der Lagerverwaltung ist begrenzt. Fest steht, dass das Notaufnahmelager in drei oder vier Wochen aufgelöst wird und anderweitig in der Stadt in einem festen Bau
untergebracht werden muss – rechtzeitig vor den Herbst- und Wintermonaten.
Der zweite Teil der Erzählung beginnt mit dem Tod von Maria’s Mutter. Sie lebt im
Fränkischen Land. Der Tag der Beerdigung ihrer Mutter ist für Maria der Grund, dass sie nach vielen Jahren wieder alle Fotografien ansieht – zuerst die ihrer Kindheit, dann aber auch die wenigen, die von der Familie ihrer Mutter, als diese noch selbst Kind war, erhalten geblieben sind. Maria’s Mutter war ein Kind von vertriebenen Deutschstämmigen, die im Böhmerwald gelebt haben.
So beginnt für Maria eine tagelange Zeitreise in die Vergangenheit ihrer Familie, ihrer Großeltern, vor allem ihrer Mutter. Eine Zeitreise des Ankommens nach der Vertreibung hier im Westen, und – auch des Aufwachsens von ihr selbst in dieser fremden Welt in den Sechzigern hier im Westen.
Maria lebt allein, ihr Mann hat sie vor einigen Jahren verlassen. Bei ihr wohnt ihr Sohn, der nach wie vor keine Lehrstelle hat und mit anderen herumzieht. Die Kommunikation mit ihm besteht für sie nur noch aus wenigen Sätzen beim Essen, das sie für ihn täglich zubereitet. – Und neuerdings immer häufigeren Streitereien über die Flüchtlinge, die immer mehr werden und hier nichts zu suchen haben, wie ihr Sohn sagt.